Mittwoch, 4. Juli 2012

Leseprobe "Falsch" - 2


7. November 1917, St.Petersburg / Russland



     Die roten Garden waren schneller da gewesen, als er geglaubt hatte. Samuel Kronstein warf einen prüfenden Blick in den Empire-Spiegel über der Anrichte des Speisezimmers und richtete sich die Krawatte mit dem gestickten Familienwappen.
     Schüsse hallten in den Straßen, Menschen stoben in Panik davon.
Mit einer fast zärtlichen Geste fuhr sich der große Mann über das Revers seines schwarzen Dinner Jacketts, nahm seinen Spazierstock, wählte einen Hut und drehte sich einmal langsam um die eigene Achse. Dabei glitt sein Blick über die wertvolle Louis XIV. Einrichtung, die Sammlung an französischen Impressionisten und die Vitrine mit dem Sèvres - Porzellan. Er  schüttelte nur bedauernd den Kopf. Nein, es gab Momente im Leben, da konnte man nichts mitnehmen. Und dies war einer jener Augenblicke, vor denen ihn seine Großmutter immer wieder gewarnt hatte. Martha Kronstein war eine Überlebenskünstlerin gewesen, ihr Leben gezeichnet durch Pogrome und Hetzjagden, geprägt von lebenslanger Diskriminierung der jüdischen Population in der Zarenzeit, bevor sie im hohen Alter schließlich nachsichtig und gütig wurde.
    Aber nie unvorsichtig.
    Und sie hatte meist Recht behalten mit ihren Warnungen, Gott hab sie selig, dachte Kronstein, schob die schwere Gardine zur Seite und schaute neugierig aus einem der großen Fenster auf den Nijinsky-Prospekt. Die Schüsse waren wieder verstummt, die Straße wie leergefegt. 
Erregte Stimmen ertönten nun von der Freitreppe. Seine Bediensteten schienen die Eindringlinge aufhalten zu wollen. Braver Alexej, lächelte Kronstein traurig, du stemmst dich vergebens gegen den Strom der Geschichte. Die Zeit hat uns bereits überholt und überrollt zugleich.
Unten wurde lautstark diskutiert. Das Palais Kronstein war nicht irgendein Ort, in den man so selbstverständlich mir nichts dir nichts eindrang, nicht einmal, wenn man als Soldat der Revolutionsgarden verkleidet war. Hier waren Marx und Trotzki ein und aus gegangen, hatten Nächte durchgetrunken und hitzig diskutiert. Der Salon des berühmtesten Schmuckhändlers Russlands war allen offen gestanden. Wenn der russische Adel Wertvolles veräußern wollte, dann hatte man stets den diskreten Kronstein gerufen. Wenn die Revolutionäre Geld brauchten, hatten sie bei ihm angeklopft und waren selten mit leeren Händen wieder abgezogen. Samuel Kronstein, einst einer der bekanntesten Mitarbeiter des Hofjuweliers Fabergé, hatte vor dreißig Jahren das goldene Handwerk an den Nagel gehängt und war in den Handel mit edlen Steinen und Pretiosen eingestiegen. Sein makelloser Ruf und seine untadelige  Vergangenheit hatten ihn schnell zu einem der gefragtesten Schmuckhändler in St.Petersburg, ja in ganz Russland gemacht. Selbst der Zar hatte ihm schriftlich gedankt, seine schützende Hand über ihn gehalten, aber Kronstein hatte rasch gelernt, sich immer alle Optionen offen zu lassen.
Großmutter Martha sei Dank.
Eine Investition, die sich nun bezahlt machen könnte, dachte er und betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel.  Trotz seiner siebzig Jahre sah er noch immer bemerkenswert gut aus. Schlank, fast zwei Meter groß und mit einer weißen Löwenmähne, die immer ein wenig zu lang, jedoch stets perfekt frisiert war, gehörte er zu den, im wahrsten Sinne des Wortes, herausragenden Persönlichkeiten der St.Petersburger Gesellschaft. Er war in die richtige Schulen gegangen, hatte mit den richtigen Mädchen getanzt und anschließend mit ihnen geschlafen.
Nur die Richtige hatte er nie gefunden.
St.Petersburg hatte es immer gut mit ihm gemeint. Er würde diese Stadt vermissen, mit ihren rauschenden Festen und den weißen Nächten, in denen es im Sommer vierzehn Tage lang nicht dunkel werden wollte. Wie oft hatte man rund um die Uhr durchgefeiert, in Kaviar und Champagner geschwelgt und den jungen Ballet - Ratten schnell klar gemacht, dass man Schwanensee auch nackt tanzen konnte? Und immer wieder, zwischen opulenten Soupers und wilden Orgien, hatte man in lauten Trinksprüchen den Zaren hochleben lassen.
Jetzt würden es wohl eher flachbrüstige Revolutionärinnen, Lenin und fuseliger Vodka werden, dachte Kronstein und verzog missbilligend das Gesicht. Und die Internationale konnte man nur schwerlich nackt tanzen.
Da klopfte es laut an der Tür und Kronstein schnellte herum. Im Haus war es ruhig geworden und der alte Mann überraschte sich bei dem Gedanken, ob Alexej vielleicht erfolgreich gewesen war und die Revolutionäre wieder nach Hause geschickt hatte. Aber ein Umsturz machte nicht an der Türschwelle halt...
Die schwere Doppelflügeltüre öffnete sich mit einem Ruck und hinter dem leicht verärgert blickenden Alexej in seiner untadeligen Butlerlivree drängten Männer in wild zusammengewürfelten Uniformen in den Raum. Ihr Strom schien nicht abreißen zu wollen. Schließlich war das Speisezimmer so gut gefüllt wie bei einer der populären Soireen anlässlich des Geburtstags des Zarewitsch.
Die Eindringlinge blickten sich staunend um und verstummten rasch angesichts der gediegenen und respekteinflössenden Pracht des Raumes.
„Wer ist Ihr Kommandeur?“, fragte Kronstein leichthin und blickte auffordernd in die Runde. Einer der Männer zog langsam seine Kappe vom Kopf und drehte sie dann leicht verlegen zwischen seinen Händen, bevor er antwortete.
„Hmm, das bin ich, Exzellenz.“ Wie auf einen unhörbaren Befehl hin zogen alle Männer ihre Kopfbedeckungen ab und hielten sie in den Händen. Einige schauten betreten zu Boden. Ihre Gewehre baumelten an ihren Schultern.
Kronstein nickte und stützte sich auf seinen Ebenholzstock mit dem silbernen Griff. „Und wie wollen Sie jetzt vorgehen, Kommandant?“
„Wir haben Befehl, das Palais in Beschlag zu nehmen und alle Anwesenden Nicht-Proletarier zu verhaften, Exzellenz,“ meinte der rundliche Mann mit dem rosa Gesicht, dem der Auftrag im Palais Kronstein sichtlich unangenehm war. Er kannte die Verbindungen des Hausherrn mit den Männern des Revolutionskomitees, seine Rolle als Finanzier. Und trotzdem... Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. 
Kronstein machte eine umfassende Handbewegung. „Bedienen Sie sich, Genosse, mein Haus ist ihr Haus.“ Ein Murmeln ging durch die Reihen der Männer, aber niemand wagte es, sich zu rühren.
Der Kommandant stieg unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Er schaute verlegen zu Boden und schien fieberhaft zu überlegen.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag,“ kam ihm Kronstein jovial zu Hilfe und schaute in die Runde, in pickelige, junge Bauerngesichter mit roten Backen und wirr abstehenden Haaren. Die meisten der Soldaten der Revolution hatten sicherlich zum ersten Mal ein Gewehr geschultert. „Ich werde Sie jetzt verlassen und das alles hier in Ihre Obhut übergeben. Ich werde nichts mitnehmen, außer meinem Hut und meinem Stock.“ Er machte eine effektvolle Pause. „Dafür werden Sie sagen, Sie hätten  mich nicht zu Hause angetroffen und verschonen mein Personal.“
Der Kommandant blickte auf und sah Kronstein dankbar an. Dann wandte er sich an seine Männer.
„Ihr habt gehört, welch großzügigen Vorschlag seine Exzellenz gemacht hat.“ Ein zustimmendes Murmeln ertönte. „Vier Mann sorgen für sein freies Geleit bis an den Ort, der ihnen von....Herrn Kronstein genannt wird.“ Er warf dem alten Mann neuerlich einen entschuldigenden Blick zu.
Seine Männer atmeten erleichtert auf und nickten. Vier von ihnen traten vor und salutierten kurz vor dem respekteinflößenden, alten Mann, der sich kerzengerade hielt, bevor er ihnen mit großen Schritten voranging und die Treppen hinunter eilte.
Mit einem letzten Blick auf die makellos weiße, klassizistische Fassade des Palais verließ Samuel Kronstein sein Stadt-Domizil und bestieg ein wartendes Automobil, das sein Chauffeur vorgefahren hatte. Als die vier Mann der Eskorte zugestiegen waren, rollte der Daimler an und gewann rasch an Geschwindigkeit.
Man sah Samuel Kronstein nie mehr wieder in St. Peterburg, das wenig später in Leningrad umbenannt wurde. Niemand wusste, wohin er verschwunden war, seine Spur verlor sich in den Wirren des Nachkriegs-Europa. Seltsam war allerdings, dass sich auch die vier Männer seiner Eskorte in Luft aufgelöst zu haben schienen. Sie wurden für tot erklärt, „gefallen bei einem Gefecht um das Regierungspalais“, wie es in den Listen hieß, die nur lückenhaft geführt wurden.
Bald hatte man sie völlig vergessen.



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