Mittwoch, 22. Mai 2013

"Heiss" - Leseprobe 4


Chief Inspector Shabbir Salams Welt ist im Untergehen begriffen.Seit er seinen alten Freund Shah Juan of Rumbor tot vor dessen Hütte liegend gefunden hat - die Leiche halb verbrannt, die Hände abgehackt - und mit unbequemen Fragen bei den Geheimdiensten aufgefallen ist, befindet er sich auf der Flucht. Aber das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan ist alles andere als menschenfreundlich und ein Polizeichef, der mit einem Mal von den Schneeleoparden gejagt wird, hat nicht viele Optionen...

 

 Hochtal Rumbur, nahe Chitral, nordwestliche Grenzprovinz/Pakistan


Es war bereits nach Mitternacht und der Schnee auf den umliegenden Gipfeln des Hindukusch leuchtete silbern im Licht einer Mondsichel, die sich theatralisch über die Bergkämme schob. Shabbir Salam trat aus dem primitiven Schuppen, der tagsüber sein Versteck gewesen war, und blickte über das ruhige Hochtal. 
Im Geiste leistete er Zeyshans Vater Abbitte. Der dunkelgraue Pick-up war zwar an einigen Stellen verbeult und zerschrammt, aber ansonsten perfekt in Schuss. Er war sofort angesprungen, was den grinsenden Zeyshan zu der Bemerkung veranlasst hatte:  „Die Batterieansammlung auf der Ladefläche würde auch einen scheintoten Elefanten blitzartig reanimieren und auf die Beine bringen.“  Dann hatte er seinen Helm aufgesetzt und sich auf sein Motorrad geschwungen. „Besser ich fahre wieder zurück nach Chitral, sonst schöpft noch jemand Verdacht. Ich will ihr Ziel gar nicht wissen, Chief, aber was immer Sie tun, denken Sie zwei Schritte voraus. Mein Vater würde mir nie verzeihen, wenn die Sie erwischen. Und ich würde Sie vermissen.“
Salam hatte genickt, ihm stumm nachgeschaut, als die Figur auf der Motocross-Maschine immer kleiner wurde und schließlich in einer Staubfahne verschwand. Am Ende war auch der Staub verweht und der Chief Inspector allein gewesen.
Der Schuppen mit dem Toyota lag abseits der großen Straße, am Rande einer weiten, mit Felsen bedeckten Lichtung, auf der einige Schafe und Ziegen ein paar kümmerliche Gräser und Kräuter abweideten, die nach der Schneeschmelze aus dem Boden gesprossen waren. Der unbefestigte Weg, der nach dem Unterstand steil und steinig in die Berge führte, hätte jedem Off-Road-Fahrer ein Leuchten in die Augen gezaubert. Doch Salam war mit seinen Gedanken ganz woanders.
Er war noch nie in seinem Leben so einsam gewesen.
Seine Familie war ermordet worden, seine Frau weit weg in Lahore, seine Mitarbeiter zwar so nah, aber trotzdem unerreichbar fern, er selbst ein Flüchtling, der bald tot sein würde, wenn er nicht die richtigen Entscheidungen traf und die falschen Orte mied. Denn er  zweifelte keinen Moment daran, dass er zwar nach Chitral hinein, aber nie wieder lebend heraus kommen würde. 
Während er die Reifen kontrollierte und die Plane hochhob, die über die Batterien gespannt war, überlegte sich Salam seine nächsten Schritte. Er hatte keine Waffe, kaum Geld und trug die zerschlissene Kleidung eines armen Bergbewohners. In der Brusttasche seiner Weste spürte er sein altes Notizbuch und seinen Ausweis. An eine Flucht nach Afghanistan über die Grenze war nicht zu denken. Ohne Lebensmittel und warme Kleidung würde er den Weg durch die Berge nicht überleben. Die Temperaturen auf den schmalen Passwegen dort oben würden ihn schneller umbringen, als seine Verfolger es je könnten.
Sein Leben hing also davon ab, ob Llewellyn eine Lösung fand, ihn irgendwie außer Landes zu bringen.
Und wie lange er dafür brauchen würde.
Mit jeder Minute, die verging, stieg das Risiko für Salam, entdeckt zu werden. Die ISI würde immer mehr Technik, Fahrzeuge und Agenten in die Provinz bringen und zur Treibjagd blasen. Die vier Männer im BMW X5 waren nur die Vorhut gewesen. Deshalb konnte er auch nicht mehr in der provisorischen Garage bleiben. Bald würden sie die ersten Späher schicken.  
 Salam machte sich allerdings wenig Illusionen, was Llewellyn betraf. Was sollte der Major schon ausrichten? Auch er konnte keine Wunder wirken. Also ging es vorläufig darum, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Er überlegte für einen Augenblick, nach Nordosten zu fahren, tiefer in die Täler des Hindukusch, aber irgendwann würde der Tank des Toyota leer sein – und dann? Ohne Geld saß Salam in der Zwickmühle. Er musste möglichst unsichtbar bleiben, aber trotzdem telefonieren, sollte Abstand zwischen Chitral und sich bringen und doch keiner Patrouille in die Hände laufen, dringend einen sicheren Platz zum Übernachten finden und gleichzeitig nicht verraten werden.
Er trat zurück in den Schuppen und schaute auf die Uhr. Es war an der Zeit zu verschwinden. Seine Hände glitten nachdenklich über die Karosserie des Toyotas, bevor er die Fahrertür öffnete.
Wenn er nur wüsste, wohin er fahren sollte.
Schließlich ließ er den Motor des Geländewagens an und machte sich im Schutz der Dunkelheit auf den Weg, manövrierte den Geländewagen hinaus aus dem Schuppen und fuhr in Schrittgeschwindigkeit über den holprigen Weg hinunter in Richtung Fluss, ohne die Scheinwerfer einzuschalten.
In der Talsohle angekommen, lag die Hauptstraße vor ihm. Er musste eine Entscheidung treffen: links oder rechts?
Er zögerte, die Scheinwerfer einzuschalten und dachte nach. Er wollte keinen seiner Freunde und Kollegen in Gefahr bringen. In Chitral unterzuschlüpfen war also keine Option. In den Augen der ISI war ein toter Salam der beste Salam.
Tot – mit einem Mal wusste er, wohin er fahren würde.
 
Zehn Minuten später lenkte er den Toyota im Leerlauf um die letzte Kurve der schmalen Straße, die schon eher ein Weg war. Dann löschte er die Scheinwerfer und stieg aus, drückte die Tür leise zu. Die ausgebrannte Hütte von Shah Juan von Rumbur lag in der Dunkelheit wie ein schwarzes Mahnmal vor ihm, bewacht von den mysteriösen stummen Gestalten aus Holz mit ihren seltsamen Kopfbedeckungen.
Der Geruch von Rauch, kalter Asche lag noch immer in der Luft und Salam meinte gar, das verbrannte Fleisch zu riechen. In den Eichen raschelte es. Der kalte Wind stieg von den Bergen ins Tal, wie jede Nacht. Der Sommer war noch fern und wer weiß, ob Salam ihn jemals erleben würde.
Er fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht und versuchte das Bild des verkohlten Körpers seines Freundes zu verdrängen, das er immer wieder vor sich sah, wenn er zum Eingang der halb eingestürzten Hütte hinüber blickte. So wandte er sich dem Arbeitsplatz des Bildhauers unter dem Vordach zu. Trotz der furchtbaren Ereignisse schien der gute Geist Juans noch immer über der kleinen Lichtung zu schweben und Salam kam sich etwas weniger einsam vor.
Als er vor dem von unzähligen tiefen Axthieben getroffenen Holzblock stand, schaute er abermals ratlos auf die begonnene Skulptur, die nun ein unkenntliches Stück Holz war. Was war daran so wichtig gewesen, dass die Angreifer es nicht unversehrt zurücklassen wollten? Warum hatten sie es dann nicht ebenfalls angezündet? War es zu groß gewesen, um in der kurzen Zeit Feuer zu fangen oder hatte der Brandbeschleuniger nicht ausgereicht?
Salam seufzte. Aus seiner Brusttasche zog er das kleine weiße Stoffstück mit der Skizze des Holzblocks und der mystischen Zeichnung des Beschützers, ging in die Hocke und legte es auf einen flachen Stein, strich es glatt. Im Schein des Halbmondes, der nun endgültig  über der Bergkette aufgegangen war, schien der Stoff zu leuchten.
„Der Beschützer“, murmelte Salam und setzte sich neben den Stein auf den harten Boden. Er blickte über das Tal und schmeckte die kühle Luft. Irgendwo schrie eine Eule. „Stehst du allen bei, die in Not sind? Dann könntest du sofort bei mir anfangen. Meine Welt ist gerade dabei, unterzugehen. Meine Familie ist tot, meine Freunde sind in Gefahr, ich bin auf der Flucht und die Schneeleoparden jagen mich. Spielt es da eine Rolle, ob ich Kalash bin oder nicht?“
„Der tiefe Glaube spielt eine Rolle, sonst nichts“, antwortete hinter ihm eine Stimme aus der Dunkelheit und Salam zuckte zusammen. Erschreckt blickte er sich um und sah eine schmale Gestalt in wenigen Metern Entfernung, die in einen weiten schwarzen Umhang gehüllt war, der auch die Haare verbarg. Lautlos kam der Schatten näher.
Der Chief Inspector wollte aufspringen, doch die Stimme meinte beruhigend: „Bleiben sie sitzen, Chief. Sie sind doch Shabbir Salam aus Chitral, der Polizeikommandant? Die Frauen haben über Sie gesprochen.“
Salam nickte erstaunt, während die Gestalt ihren Umhang zusammenraffte und sich neben ihm niederließ. Ein Geruch von Minze wehte zu ihm herüber, als eine alte, knochige Hand zwischen den Falten des Umhangs erschien, den kleinen Stofffetzen mit der Zeichnung vom Stein nahm und aufmerksam betrachtete.   
„Und wer sind Sie?“, erkundigte sich Salam neugierig.
„Ein Geist zwischen Leben und Tod, eine der Dorfältesten. Ich werde Juan bald folgen, dahin, wo er nun ist. Ich spreche seit zwei Tagen hier mit ihm.“
Ihre Stimme raschelte wie der Wind in den Zweigen und als sie den Umhang vom Kopf abstreifte, kam ein hageres, tief zerfurchtes Gesicht zum Vorschein, mit eingefallenen Wangen und einem spitzen Kinn. Salam glaubte, sich verhört zu haben. Sie sprach seit zwei Tagen mit dem Toten? Er schloss erschöpft die Augen. Ausgerechnet jetzt begegnete er einer verwirrten Alten. 
„Ich weiß, was Sie denken“, sagte sie nachsichtig lächelnd. „Sie sind kein Kalasha.“ Als ihre leuchtend blauen Augen sich auf Salam richteten, schien es ihm, als blickten sie tief in sein Innerstes hinein.
„Juan ist noch immer hier bei uns“, raunte sie, „Sie sollten nicht um ihn trauern, ganz im Gegenteil. Er ist unsterblich.“  Sie wies auf die vielen stummen hölzernen Wächter, die sie umringten. „Nicht nur deshalb. Sondern weil unsere Sitten den Reichen vorschreiben, ihren Besitz freigiebig zu verteilen. Juan hat immer mit beiden Händen gegeben, zum Wohlergehen der Gemeinschaft beigetragen, verschwenderische Feste zu Ehren der Götter gefeiert, zu denen alle eingeladen waren. In unserem Glauben hat er damit die Unsterblichkeit erlangt. Er kann als einer unserer Ahnen über den Tod hinaus teilhaben am Leben unseres Volkes. Deshalb ist er hier. Er sieht uns und wenn Sie genau zuhören, dann können Sie ihn sprechen hören.“
Sie sprach mit einer solch tiefen Überzeugung, dass Salam versucht war, sich umzusehen, ob Juan nicht im Eingang der Hütte stand, wie so oft, und ihm zuwinkte.
„Nein, ich bin kein Kalash. Aber Shah Juan hat mir an manchen Abenden über euer Volk  erzählt“, antwortete er leise. „Doch vieles verschwieg er auch.“
„Das liegt in unserer Tradition und die ist uns heilig“, sagte die alte Frau leise. „Wer zu viel verrät, der verurteilt unsere Kultur zum Tod. Ohne die Geheimnisse, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, gehen wir unter, verlieren uns wie ein Wassertropfen im Meer.“ Sie blickte hinauf zu den Gipfeln. „Ich würde es gerne einmal sehen, das Meer.“
Die Eule schrie wieder und die Alte lächelte. Dann wandte sie sich an Salam. „Aber was hat Sie hierher zurückgebracht?“
Sie legte das Stück Stoff mit der Zeichnung vorsichtig zurück auf den flachen Stein. Dann musterte sie den Chief Inspector aufmerksam in der Dunkelheit. „Noch dazu in alten, zerrissenen Bauernkleidern und zu dieser Stunde.“
Salam überlegte sich seine Antwort sorgfältig. „Ich habe einen sicheren Platz für die Nacht gesucht“, sagte er schließlich.
Die Alte dachte kurz nach, dann nickte sie, als wäre damit alles erklärt. „Dies ist ein guter Ort“, meinte sie schließlich. „Hier wacht Shah Juan über uns. Er sprach mit den Bäumen, sie gaben ihm sogar ihren Körper für sein Werk. Er konnte die Vögel verstehen, sie waren seine Augen in der Nacht, wenn sonst niemand mehr sah. Er bannte die Geister und hielt sogar die Schneeleoparden in Schach. Er war unser Auge und unser Mund da draußen in der Welt jenseits der Berge.“
„War er der Beschützer?“, erkundigte sich Salam.
„Nein, nein“, wehrte die Alte ab. „Es gibt nur einen Beschützer der Kalash. Er lebte vor langer Zeit unter uns, bevor er mit der untergehenden Sonne verschwand. Nur der Schöpfer steht über ihm, Khodai, der alles kann, alles ist und alles erfüllt.“ Sie wies auf das Stück Stoff und die Umrisse der Figur. „Von Khodai gibt es kein Abbild und für ihn kein Heiligtum, denn er ist unerreichbar und nicht erfassbar in seiner Größe. Aber er ist es, der die Natur in seiner Hand hält, der jedes Jahr den Schnee zum Schmelzen bringt und die Knospen zum Sprießen.“
Sie wies hinunter ins Tal, wo der Ort an einem schmalen Bach lag. Kein Laut drang herauf. „Wir sind umringt von Feen und Geistern, Göttern und Dämonen, die jeden Tag unser Leben bestimmen. Sie haben seit Tausenden von Jahren ein Abkommen mit uns, gegen das man nicht verstoßen darf.“
Plötzlich begann sie zu singen, mit einer brüchigen Stimme, die Salam eine Gänsehaut über den Rücken jagte:

Es ist Winter,
geh' nicht in die Berge,
steig‘ nicht hinauf
wo die Feen Dich holen werden“

  Der Chief Inspector hatte den Eindruck, dass mit einem Mal das Rascheln in den Eichen lauter wurde. Die Alte verstummte, lauschte und hob den knochigen Zeigefinger. „Hören Sie?“
„Der Wind wird stärker.“
„Die Feen kommen näher“, antwortete sie einfach. „Manchmal steigen sie herab von den Bergen, aus der Reinheit der Höhen in den Schmutz der Niederungen. Dann sind sie gekommen, um uns zu helfen. Aber oben, auf den Bergen, da sind sie die uneingeschränkten Herrscher und verteidigen ihr Reich.“
Salam seufzte. „Vielleicht haben sie einen Zauberstab dabei, der mich unsichtbar macht.“
Die Alte musterte ihn mit einem seltsamen Blick. „Trage Schwarz in der Nacht und Weiß im Schnee“, sagte sie nur. „Und die Peri werden dich schützen.“
„Wer sind die Peri?“, fragte Salam.
„Feen aus den Bergen, die uns bei der Jagd helfen. Und dabei, unsere Feinde zu töten.“
„Dann sollte sie am besten zu Hunderten anrücken“, gab der Chief Inspector zurück und lächelte bitter.
„Nicht die Zahl ist wichtig, die Stärke ist es“, meinte die Alte listig. „Hundert Ameisen werden doch von nur einem Schuh zertreten.“
Beide schwiegen und blickten ins Tal. Die Minuten vergingen und Salam spürte die Ruhe, die ihn umgab und die sich langsam in seinen Gedanken ausbreitete.
„Wollen Sie über die Berge? Vor welchen Geistern laufen Sie davon?“, fragte die Alte ihn unvermittelt.
Salam starrte in die Nacht. „Die Schneeleoparden sind aufgewacht“, flüsterte er, „und ihre Krallen reichen bis über die Grenzen.“
„Juan hatte keine Angst vor ihnen und ich habe es auch nicht“, sagte sie. „Kommen Sie! Wir gehen.“ Sie stand auf und streckte ihre Hand aus.
Erstaunt sah Salam auf. „Wohin?“
„Ins Dorf. Sie müssen essen, trinken und schlafen. Wir werden einen sicheren Platz für Sie finden und die Männer werden bis morgen früh wachen. Lassen Sie den Wagen hier, unter den Zweigen der Bäume.“
„Ich möchte euch nicht in Gefahr bringen“, wehrte der Chief Inspector ab.
„Die Gastfreundschaft ist in den Bergen heilig“, gab die Alte zu bedenken.
„Manchen Menschen ist nichts heilig“, antwortete Salam und erhob sich. „Sie wollen Terror, Blut und Chaos und nennen es den heiligen Krieg.“
„Es gibt keinen heiligen Krieg und wenn sie das glauben, dann werden sie in der Schlacht umkommen“, flüsterte die alte Frau. Sie sah dem Chief Inspector in die Augen. „Denn in unserem Glauben ist jede Störung der Ordnung –  also Krieg –  ein Angriff auf die Götter. Und ihre Rache trifft nicht den einzelnen Verursacher, sondern alle, die daran teilnehmen. Die Sieger, aber auch die Verlierer.“
Die Alte drehte sich um und ging voran, sicheren Fußes, fand mühelos den schmalen Pfad, der ins Tal führte, und begann mit dem Abstieg. Nach den ersten Metern wandte sie sich plötzlich um und Salam wäre fast in sie hineingerannt. Sie beugte sich zu ihm und raunte in sein Ohr:  
„Und glaube mir, Shabbir Salam, die Rache der Götter ist furchtbar. Du wirst es erleben.“




"Heiss" - Leseprobe 3



Montag, 13. Mai 1935,  Clouds Hill, Dorset / Großbritannien


  


  Der Mann, der aus dem weißen, schmalen Haus mit den blaugrün gestrichenen Fenstern und dem bemoosten Dach unweit der großen Bowington-Militärkaserne trat, war schmächtig und klein. Er mochte Mitte vierzig sein, mit dichtem blondem Haar über einer hohen Stirn und forschenden blauen Augen, die ein wenig misstrauisch, oft auch melancholisch in die Welt blickten.

Fast mechanisch sah er hinauf zu dem tiefblauen Himmel, an dem nur ein paar Schönwetterwolken zu sehen waren. Es würde ein schöner Nachmittag ohne Regen und Gewitter werden. Doch mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Der Brief, den er heute Morgen von seinem Freund Henry Williamson erhalten hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Williamson, ein bekannter Schriftsteller, hatte sich, desillusioniert von seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und den Entwicklungen der Nachkriegszeit, den britischen Faschisten unter Sir Oswald Moslay angeschlossen und in der Partei Karriere gemacht. Die Einladung zum gemeinsamen Mittagessen, die der Postbote vor wenigen Stunden in das Cottage in Clouds Hill gebracht hatte, kam seinem Bewohner gerade Recht. Wie viele seiner Zeitgenossen in England, aber auch in Europa, war er enttäuscht vom politischen Geschehen  nach der Konferenz von Versailles. Seine Träume, für die er gekämpft und getötet hatte,  waren seit Langem geplatzt. Vielleicht hat Williamson ja Recht, dachte er, und die treibende Kraft der neuen Zeit saß in Berlin.

Er zog die Tür des kleinen Hauses mit den niedrigen Decken zu, das er vor Jahren gemietet und schließlich gekauft hatte, und überlegte für einen kurzen Moment, abzuschließen. Dann verwarf er den Gedanken wieder. Das hier war nicht London, sondern tiefste englische Provinz. Außerdem besaß er keine Schätze. Was sollte man bei ihm schon stehlen? Und das Wissen in seinem Kopf, das konnte ihm niemand nehmen. Er ganz allein würde darüber entscheiden, mit wem und ob er es je teilen würde. Vielleicht mit dem neuen deutschen Kanzler?

Sollte er tatsächlich mit Hitler zusammentreffen? 

Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Sicher ein verlockender Gedanke. Die Einladung nach Berlin lag bei Moslay und Williamson würde sie ihm morgen beim Mittagessen übermitteln.

Der Führer wollte ihn sehen. 

Es war warm und der Frühling schien endlich auch England erreicht zu haben. Der perfekte Tag, um seine geliebte Brough Superior aus der Garage zu holen, dachte der Hausherr und verzichtete darauf, den kurzen Ledermantel zu nehmen. Stattdessen schlüpfte er in eine Jacke,  ging um das Cottage herum und rollte geschickt die mächtige Maschine aus ihrem Verschlag. Es war das siebte Motorrad des bekannten englischen Herstellers, das er in den vergangenen zwölf Jahren gekauft hatte. Tatsächlich war er einer von Broughs bekanntesten und besten Kunden. Als fanatischer Sportsmann und Motorradfahrer war er auf seinen Maschinen kreuz und quer durch England gereist. Dabei waren Strecken von fünfhundert Meilen am Tag keine Seltenheit, selbst auf den oftmals schlechten Straßen der Insel. Der Jaeger-Tachometer, der nun als Sonderausstattung seine 70 PS starke SS100 zierte und dessen Skala bis 120 mph anzeigte, reichte trotzdem nicht für die Leistungsfähigkeit seiner Maschine aus. Oft genug war der kleine Mann auf den Landstraßen mit über 200 km/h unterwegs. Nicht nur der Hersteller George Brough, sondern auch die Presse bezeichnete ihn als einen der besten Motorradfahrer des Landes.

Nach nur einem Tritt auf den Kickstarter erwachte der Zweizylinder zum Leben. Während er die Maschine mit dem Kennzeichen GW 2275 warm laufen ließ, zog er seine Handschuhe an und setze die Motorradbrille auf. Bis zum Postamt nach Bovington, einem kleinen Ort, der aus einer Handvoll in der flachen Landschaft verstreuter Häuser und Bauernhöfe bestand, waren es keine zwei Meilen. Sollte er noch einen kleinen Ausflug nach Weymouth ans Meer anhängen, nachdem er das Telegramm mit der Antwort auf Williamsons Einladung abgeschickt hatte? Die vierzig Meilen hin und retour würden ihm gut tun.

Der Auspuff der frisierten Brough klang wie die Fanfaren von Jericho und brachte die Scheiben des kleinen Hauses zum Vibrieren. Er ließ die Kupplung kommen und fing geschickt das ausbrechende Hinterrad der starken Maschine ab, das auf dem Schotter unter dem Ansturm der Pferdestärken sofort durchdrehte. Ein Spielchen, das er oft spielte. Er liebte schnelle Motorräder, den Rausch der Geschwindigkeit, das Risiko und das Gefühl der Stärke.

Die Straße entlang Bovington Camp war auf einer Strecke von fast einer Meile so gut wie schnurgerade. Ein paar kleine Schikanen, wie er es nannte, leichte Kurven, aber nichts Besonderes. Schnell pendelte sich die Nadel des Tachometers bei 80 Meilen ein. Die Brough war noch nicht auf Betriebstemperatur, der Wind im Gesicht hingegen überraschend warm. Der Anblick der tristen, grauen Kasernenbauten, an denen er vorbeifuhr, erinnerte ihn daran, dass er erst vor Kurzem aus der Armee ehrenvoll entlassen worden war. Ein neuer Lebensabschnitt war angebrochen.

Vielleicht würde er ihn nach Deutschland führen.

Das kleine Postamt des Ortes hatte die Atmosphäre eines übergroßen Wohnzimmers. Arthur, der kahlköpfige Beamte mit den Ärmelschonern, saß seit Jahrzehnten hinter der hölzernen Absperrung mit dem kleinen Sichtfenster. Er kannte alle und jeden, war oft genug Psychiater und Seelsorger seiner Kunden, und züchtete nebenbei Kaninchen, die er unter der Hand verkaufte. Arthur wusste alles, zumindest wenn es um Bovington und Umgebung ging. So horchte er überrascht auf, als er die Brough herandonnern hörte und der Motor vor dem Postamt erstarb. Wenige Augenblicke später betrat der schmächtige Mann den Raum, die Motorradbrille auf der Stirn, sah sich kurz um und bemerkte mit Genugtuung, dass außer ihm keine Kunden warteten.

„Hallo Arthur, ich möchte ein Telegramm aufgeben!“, begrüßte er den Beamten und schob ein Stück Papier unter der Glasscheibe durch. „Hier die Adresse des Empfängers und der Wortlaut.“

„Hallo Mr. Shaw!“, nickte Arthur und überflog kurz die paar Zeilen. „Ihre Maschine ist ja nicht zu überhören. Damit könnten Sie sich kaum irgendwo anschleichen.“ Er lächelte verschmitzt. „Nicht so wie in alten Tagen. Sie sind morgen also in London zum Mittagessen?“

Shaws Augen leuchteten, als er nickte. Er kannte die Straßen zwischen Clouds Hill und der Hauptstadt wie seine Westentasche und betrachtete sie als seine ganz persönliche Rennstrecke. „Und am späten Nachmittag wieder zu Hause“, gab er zurück. „Eigentlich wollte ich jetzt noch eine kurze Spritztour nach Weymouth unternehmen, aber der Tank ist fast leer und die Kanister mit dem Benzin stehen in der Garage. Also…“ Er seufzte und zuckte die Schultern. „Kein Ausflug.“

Nachdem er bezahlt hatte, winkte er Arthur kurz zu, verließ das Postamt und schwang sich wieder auf die Brough. Nachdem er das Motorrad angelassen hatte,  fühlte er mit der rechten Hand nach dem Zylinder und stellte befriedigt fest, dass der Motor nun fast heiß war. „Gut so“, murmelte er und fuhr los.

Nachdem er in die King George V Road eingebogen war, gab er Gas. Die Brough sprang geradezu nach vorne und stürmte los wie ein Rennpferd. Nach einer viertel Meile zeigte der Tachometer 90 Meilen, Tendenz steigend. Doch dann sah Shaw weiter vorne zwei Fahrradfahrer, die auf seiner Seite der Straße nebeneinander gemächlich dahinrollten und bremste fluchend ab. Dahinter lag eine der Schikanen und ein paar Büsche versperrten den Blick auf eventuellen Gegenverkehr. Nicht der richtige Zeitpunkt für einen neuen Geschwindigkeitsrekord.

Als er nur noch hundert Yards hinter den Radlern war und mit kaum 40 Meilen durch die leichte Kurve rollte, sah er mit einem Mal den schwarzen Lieferwagen, der ihm in Richtung Bovington entgegen kam. Er beglückwünschte sich zu seinem siebten Sinn, der ihn wieder einmal vor einem Unfall bewahrt hatte. Die beiden Radfahrer hatten den Lieferwagen ebenfalls gesehen, fuhren näher an den Straßenrand und reihten sich hintereinander ein.

Shaw beschloss, den entgegenkommenden Lieferwagen abzuwarten und dann erst auf der schmalen Straße die beiden Radfahrer zu überholen. Die Fahrerkabine war auf seiner Höhe, als Shaw einen fürchterlichen Schlag gegen seinen Kopf spürte, so, als hätte jemand mit einer Eisenstange auf seine rechte Schläfe eingedroschen. In einem letzten verzweifelten Versuch verriss er die Brough zur Straßenmitte hin, um nicht die beiden Jungen auf ihren Fahrrädern niederzumähen.

Dann wurde es schwarz um ihn. Der Aufprall auf die Fahrbahn war das Letzte, was er spürte.
Corporal Ernest Catchpole vom Royal Army Ordnance Corps, stationiert in Bovington, führte gerade seinen Hund der Straße entlang spazieren, als er den Auspuff der Brough hörte. Er dreht sich um und sah noch, wie die schwere Maschine über die Fahrbahn schlitterte, wie der schwarze Lieferwagen beschleunigte und die beiden Jungen auf ihren Fahrrädern vor Entsetzen aufschrien. Dann stürmte Catchpole auch schon los.

Der Fahrer lag regungslos halb im Straßengraben und halb auf der Fahrbahn, sein Kopf war blutüberströmt.  Es roch nach Benzin und der Motor der auf der Seite liegenden Brough tuckerte immer noch vor sich hin.

Die beiden Jungen standen völlig erstarrt mit offenem Mund neben dem Verletzten, geschockt und wie gelähmt.

„Los!“, schrie sie Catchpole an, der neben Shaw in die Knie gegangen war. „Radelt los und holt Hilfe! Jetzt macht schon!“

Doch genau in diesem Moment tauchte aus einem Feldweg ein Heeres-Lkw auf und der Corporal überlegte nicht lange, sprang auf, stellte sich breitbeinig in die Mitte der Fahrbahn und zwang den Fahrer zum Anhalten. Gemeinsam hoben sie den Bewusstlosen rasch auf die Ladefläche und brachten ihn in das nur einen Steinwurf entfernte Militärhospital der Bovington Kaserne.

Dann überstürzten sich die Ereignisse.

Wie aus dem Nichts standen plötzlich Beamte der Special Branch, der militärischen Abwehr, vor dem Einzelzimmer, das man Shaw zugewiesen hatte. Catchpole und jeder andere Soldat der Kaserne mussten zum Appell antreten und erhielten den Befehl, nicht über den Unfall zu sprechen. Zu niemandem – unter Androhung langjähriger Gefängnisstrafen, basierend auf der höchsten Geheimhaltungsstufe, die das britische Militär verhängen konnte.

Code D.

Obwohl Shaw drei Monate zuvor aus der Air Force ausgeschieden war, gab das Luftfahrtministerium sofort eine Presseerklärung heraus, in der es hieß, dass es „keine Zeugen des Unfalls gegeben hätte.“

Der Chefarzt des Krankenhauses wurde in einem Gespräch unter vier Augen instruiert. Als Befehlsempfänger, der seit Jahrzehnten in der Armee war, konnte ihn nicht mehr viel überraschen. Aber als Mensch und Mediziner war er geschockt, als er an das Bett des Bewusstlosen trat und auf die schmale, fragil wirkende Figur hinunterschaute, die in den Decken und Kissen fast verschwand. Der Kopf war dick bandagiert, das Gesicht blass und eingefallen. Es würde keine weiteren Untersuchungen geben, hatte der britische Geheimdienst kategorisch festgestellt und die Ankunft einen eigenen Gehirnspezialisten angekündigt, der aus London angefordert worden war. Alles Weitere würde man sehen.

Der Mediziner ging tief in Gedanken versunken zum Fußende des Bettes, nahm das dünne Holzbrett mit dem Krankenblatt zur Hand, und warf einen Blick drauf. Dann zog er einen Bleistift aus der Brusttasche und schrieb „T.E. Shaw“ auf das weiße Papier. Er zögerte einen Moment, überlegte, und fügte schließlich darunter hinzu:

„Lawrence of Arabia“.