Terminal 3, International Airport, Kairo /Ägypten
John Finch seufzte, als er die lange Schlange von Touristen und Geschäftsreisenden vor dem Abfertigungsschalter sah. Dann reihte er sich am Ende ein und warf einen Blick nach vorne. Zwei gelangweilt schauende Uniformierte kontrollierten mechanisch die Pässe der ankommenden Passagiere, warfen nebenbei immer wieder einen Blick auf einen flackernden kleinen Bildschirm, blätterten in ihren Unterlagen, unterhielten sich kurz, kontrollierten zuletzt noch eine Liste, um dann mit einer resignierten Handbewegung den Stempel auf eine freie Seite des Passes zu knallen.
Es gibt Dinge, die ändern sich nie, dachte Finch kopfschüttelnd und betrachtete die rotglühenden Ziffern der großen, rechteckigen Uhr, die über dem Foto der großen Pyramide zu schweben schien und inmitten der Zigarettenreklame mit dem Kamel etwas deplatziert aussah. „Das dauert mindestens eine Stunde“, murmelte er und zog ein internationales Luftfahrtmagazin aus der Tasche, das er bei der Zwischenlandung in Rio erstanden hatte, „und das ist noch optimistisch geschätzt.“
Er vertiefte sich in einen Artikel über den neuen Airbus 380 und war gerade bei den technischen Daten der Triebwerke angelangt, als ihm jemand auf die Schulter tippte.
„Mr. Finch, John Finch?”
Er blickte überrascht auf und sah in die dunkelbraunen Augen einer schlanken, uniformierten Frau, die ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf und einem neugierigen Blick musterte. Sie trug ihr schwarzes Haar hochgesteckt und ihre Figur in Verbindung mit dem knappen Schnitt ihrer Uniform würde bei allen noch so religionstreuen Ayatollahs für schlaflose Nächte sorgen, da war sich Finch sicher.
„Sieh da, es hat sich doch etwas geändert, dem Tahrir-Platz sei Dank“, lächelte er erfreut und nickte. „Yes, Madam, John Finch, direkt aus Südamerika.“
„Dann folgen Sie mir bitte,“ erwiderte die Frau kurz angebunden, drehte sich um und ging voraus, an der Schlange entlang durch die Kontrolle, wo sie den beiden Beamten hinter dem Schalter zunickte, um schließlich mit John im Schlepptau eine Tür anzusteuern, deren obere Hälfte aus Milchglas bestand. Sowohl Klinke als auch Schlüsselloch fehlten, stellte Finch alarmiert fest, während er der uniformierten Zollbeamtin zusah, die flink einen langen Code eintippte.
Einen Augenblick später sprang die Tür mit dem blankpolierten Schild, auf dem in Arabisch und Englisch „Immigration“ zu lesen war, summend auf.
„Nach Ihnen, Mr. Finch.“ Die Handbewegung der jungen Frau war weniger Einladung, als unmissverständliche Aufforderung. Der ironische Zug um ihren Mund in Verbindung mit dem forschenden Blick gefiel Finch ganz und gar nicht.
Ein langer, heller Gang erstreckte sich vor ihnen, von dem in regelmäßigen Abständen Glastüren abgingen. Einige davon standen offen und John Finch hörte laute Stimmen, Lachen und das Klackern von Computertastaturen. Die junge Beamtin schob ihn mit leichtem Druck am Ellenbogen immer weiter, bis sie vor einer gepolsterten Tür angekommen waren, neben der kein Namensschild hing.
„Ich mag ihr Parfum“, versuchte es Finch verbindlich.
„Sie werden erwartet“, stellte die junge Frau statt einer Antwort fest, drückte ohne anzuklopfen die Klinke nieder und stieß die Tür auf. Dann drehte sie sich wortlos um, ging den Flur hinunter und ließ ihn alleine.
Das sparsam möblierte Büro, das Finch zögernd betrat, war kühl und überraschend groß, mit einem weiten Panoramablick auf das Vorfeld des Flughafens. Die getönten, riesigen Scheiben reichten bis zum Boden und John schien es, als befinde er sich in der Kanzel eines startbereiten Zeppelins. Hinter einem modernen, aufgeräumten Schreibtisch reihte sich Monitor an Monitor, auf denen unentwegt neue Bilder der Ankunftshalle aus verschiedenen Blickwinkeln erschienen. Finch erkannte die Schlange, in der er gestanden hatte und die beiden Beamten, die unbeeindruckt von der wartenden Menschenmenge jeden Pass genau kontrollierten.
„Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal
hier zu sehen.“
Der Mann in der untadeligen Uniform, der
unhörbar hinter Finch durch die Polstertür getreten war und sich nun von innen
dagegen lehnte, war gut einen Kopf kleiner als der Pilot und fast zierlich.
Eine große Hakennase beherrschte sein fein geschnittenes Gesicht, aus dem zwei
braun-schwarze Augen abgeklärt auf sein Gegenüber blickten. Sein Kopf, völlig
kahl bis auf einen dünnen Kranz grauer Haare, glänzte im Vormittagslicht wie
eine Billardkugel.
„Ich auch nicht.“ Finch wandte sich um und
sah den schmächtigen Mann überrascht an. „Aziz, was machst du hier? Ich dachte,
du wärst bereits seit Langem in Pension und würdest mindestens ein Dutzend
Enkelkinder auf den Knien schaukeln.“
„Die Dinge haben sich überraschend geändert,
wie du weißt, und der Militärrat brauchte rasch zuverlässige Leute.“ Major Aziz
Ben Assaid stieß sich von der Tür ab und ging an Finch vorbei, ohne seine Hand
auszustrecken. „Ägypten ist nicht mehr das Land, das du vor fünf Jahren
verlassen hast, John. Nordafrika ist im Umbruch, nein, im Aufbruch, dank der
Entschlossenheit der Jugend. Kein Platz für alte Männer mit dubioser
Vergangenheit.“
„Was machst du dann hier?“, warf Finch wie
nebenbei ein und ließ seinen Seesack fallen. „Wenn ich mich recht erinnere,
warst du Präsident Mubarak gegenüber nicht gerade kritisch eingestellt. Wie
lange bist du bereits Leiter des Immigrationsdepartments hier am Flughafen?“
Der Major ignorierte den Einwurf
geflissentlich. „Ich könnte dich umgehend wieder in den nächsten Flieger setzen
und dich zurückschicken, wo immer du hergekommen bist.“ Assaid war an eines der
hohen Fenster getreten. „War es nicht das brasilianische Amazonasgebiet? Warum
bist du nicht da geblieben?“
„Weil ich Sehnsucht nach Nordafrika hatte
und mir das Klima am Fluss nicht gutgetan hat“, grinste Finch und trat neben Assaid.
Die Karren der Loader flitzten wie Ameisen über das Vorfeld. Einige Minuten lang
schwiegen beide Männer und sahen einer Lufthansa-Maschine zu, die langsam an
den Finger des Terminals rollte.
„Nordafrika ist groß“, wandte der Major
schließlich ein und legte die flache Hand auf die Scheibe. „Geh woanders hin,
John, nach Algerien oder nach Marokko, nach Libyen oder Tunesien. Ägypten
braucht dich nicht. Und die Leute auf dem Tahrir-Platz brauchen dich erst recht
nicht.“
„Piloten braucht man immer“, wandte Finch
ein und zog seine Ray Ban aus der Brusttasche. „Ich war zu lange fort und
Südamerika war nicht meine Bestimmung.“
„Ägypten ist es auch nicht.“ Assaid klang
endgültig. „Dein Ägypten gibt es nicht mehr. Es ist versunken, endgültig
untergegangen und ich bin versucht zu sagen, zum Glück. Du bist ein alter Mann,
der einem Traum nachhängt, dem Bild eines Straßenmalers, das schon lang
verwischt wurde. Vom Asphalt gewaschen durch den kräftigen Strahl der
morgendlichen Straßenreinigung. Ich gebe dir einen guten Rat. Geh nach England
zurück, wieder nach Hause, John.“
„Ich bin hier zu Hause“, entgegnete Finch
bestimmt und streckte sich. „Endlich. Und du wirst mich nicht daran hindern,
dieses neue Ägypten zu entdecken. Ob ich endgültig hier bleibe oder nicht, das
werden die kommenden Wochen zeigen.“
„Der nächste Flieger nach London geht in
zwei Stunden“, warf der Major ein. „Mach es mir leicht und kauf dir ein
Ticket.“
Finch schüttelte den Kopf. „Nicht im Traum.
Das alte Continental-Savoy gibt es nicht mehr, wie du weißt, und so hält mich
nichts in Kairo. Aber die Bar des Cecil in Alexandria soll auch ganz brauchbar
sein. Außerdem mag ich den Blick über die Bucht auf das Meer.“
Assaid wandte sich ab, ging mit gesenktem
Kopf langsam zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den Sessel fallen. Dann
trommelte er mit seinen Fingern auf die Tischplatte, während er den Piloten
nicht aus den Augen ließ.
„John Finch, der Tourist. Eine ganz neue
Rolle. Ich kenne dich schon zu lange, um an ein Wunder zu glauben, also erzähl
mir keine Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Das ist die Spezialität der
Geschichtenerzähler in den Bazaren. Scheherazade ist hier nur mehr eine ferne
Erinnerung, deine Abenteuer allerdings sind Legende und das beunruhigt mich.
Also, was genau hast du in Ägypten vor?“
„Fliegen“, antwortete Finch lakonisch. „Dazu
brauche ich ein Flugzeug, aber das wird sich finden – Inschallah.“
„Wie wäre es mit einem Flugzeug nach
London?“, versuchte es der Major erneut, dann zuckte er mit den Schultern. „Wie
du willst. Mach von mir aus Urlaub im Cecil, auf den Spuren deiner Landsleute
Somerset Maugham, Agatha Christie und Winston Churchill. Genieß die Bar und die
Terrasse, den Blick aufs Meer und die Sonne.“ Er legte die Fingerspitzen
aneinander und sah Finch durchdringend an. „Und dann, dann verschwindet der
Tourist John Finch wieder.“
„War nicht Al Capone auch Gast im Cecil?“,
erkundigte sich Finch und warf Assaid einen unschuldigen Blick zu. „Und hatte
nicht der Britische Secret Service während des Krieges eine ganze Suite als
Operationsbasis gebucht? Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr glaube ich,
dass das Cecil genau der richtige Platz für mich ist.“
Der Major streckte auffordernd die Hand aus.
„Gib mir deinen Pass. Ich stelle dir ein Touristenvisum aus, beschränkt auf
zwei Wochen und keinen Tag länger. Dann möchte ich dich außer Landes wissen,
sonst lasse ich dich auf die Liste der unerwünschten Personen setzen. Die
Staatssicherheitsbehörde ist zwar seit einem Monat aufgelöst, aber ich finde
dich schon.“
„Papier ist geduldig“, gab John gleichmütig
zurück und reichte Azis seinen Pass. „Hier bin ich zu Hause, auch wenn du das
scheinbar vergessen hast. In den engen Gassen der Suks und den Dünen der Sahara
oder den Hochtälern des Atlas kannst du nach mir suchen bis zum jüngsten Tag,
das weißt du ganz genau.“ Er machte eine Pause und sah dem Major versonnen zu,
als der einen Stempel und seine Unterschrift in das Reisedokument setzte.
„Erinnere dich, Aziz. Ihr habt einst von Ali auch keine Spur gefunden, allen
Anstrengungen und dem Einsatz professioneller militärischer Suchtrupps zum
Trotz.“
Assaid hob den Kopf auf und warf John einen
warnenden Blick zu. „Soviel ich weiß, hast du dich auch an der Suche beteiligt,
bist damals geflogen und mit leeren Händen wieder nach Kairo zurückgekommen.“
„Vielleicht haben wir alle an der falschen
Stelle gesucht“, wandte Finch ein. „Dein Bruder hatte sich auf den Weg gemacht,
ohne jemanden einzuweihen. Er war jung und unbekümmert wie wir alle, und das
Adrar-Gebirge ist groß.“ Der Pilot nahm seinen Pass von dem leeren Schreibtisch
und steckte ihn ein. Dann lehnte er sich vor und tippte auf die
Schreibunterlage, die eine Generalstabskarte von Ägypten war. „Ich habe oft an ihn
gedacht, weil mir sein Verschwinden lange keine Ruhe gelassen hat. Ali war ein
archäologisches Genie, ein Eigenbrötler und ein unverbesserlicher
Geheimniskrämer. Rechne zu seinen Forschungen noch die Wüste und die
unwirtlichste Steinlandschaft der Welt dazu und du hast ideale Voraussetzungen
dafür, jemanden bis zum Jüngsten Tag zu suchen.“
Der Major schwieg. Eine Maschine der
EgyptAir startete mit donnernden Triebwerken und verschwand in den blauen
Himmel.
„Das ist lange her“, sagte Assaid
schließlich leise, als der Lärm verklungen war. „Mein Bruder ist seit
Jahrzehnten tot. Die Zeit ist über Ali hinweg gezogen. Und auch über uns.“
„Alles fürchtet sich vor der Zeit, aber die
Zeit fürchtet sich vor den Pyramiden“, erwiderte John Finch. „Ein altes, aber wahres
Sprichwort.“
„Pass auf dich auf“, stellte Aziz
entschlossen fest und erhob sich. „Vierzehn Tage, John, und keinen Tag länger.
Viel Spaß in Alexandria.“
Die Veterinärmedizinerin in ihrem weißen
Mantel und dem blinkenden Namensschild warf einen Blick auf das Papier, das
John Finch ihr gereicht hatte und es kam dem Piloten so vor, als lese er
Erleichterung in ihren Augen.
„Sie holen den Papagei ab?“, erkundigte sie
sich hoffnungsvoll. „Kerngesund und fit wie ein Turnschuh, hört auf den Namen
Sparrow? Allerdings...“
„Ja?“, erkundigte sich Finch mir gerunzelter
Stirn.
Die Ärztin lächelte schelmisch. „Wir mussten
ihn in einer eigenen Voliere unterbringen. Er ist nicht gerade sozial, wenn es
um Artgenossen geht und redet wie ein Wasserfall. Wo hat er bloß diese
Ausdrücke her?“
„Äh, ich habe ihn zu mir genommen, weil sein
ursprünglicher Besitzer gestorben ist“, erklärte John und schmunzelte. „Es war
ein alter Mann, der jahrzehntelang in einer Traumwelt lebte, voller Piraten und
Kanonen, Segelschiffen und karibischen Inseln.“
„Es gibt schlimmere Träume“, meinte die
Ärztin nachsichtig. „Warten Sie, Mr. Finch, ich gehe und hole den kleinen
Schwerenöter.“
Er hörte Sparrow bereits, lange bevor die
Tür aufging. „Alte Schabracke!“, kreischte der Papagei protestierend, „Alle
Frauen von Bord!“. Als er Finch sah, verstummte er überrascht und trippelte
nervös von einem Bein aufs andere. Dann flatterte er auf die Schulter des
Piloten und saß ganz ruhig, bevor er seinen Kopf an seiner Wange rieb.
Finch lächelte verlegen. „Ich hoffe, Sie
nehmen die alte Schabracke nicht persönlich“, murmelte er, beglich die Rechnung
und legte noch ein gutes Trinkgeld drauf. „Manchmal sieht Sparrow nicht sehr
gut, müssen Sie wissen.“
„Das will ich hoffen!“ Die Medizinerin
lachte fröhlich. „Sonst müsste ich ihn teeren und federn und an die Rah binden!
Leben Sie wohl, Mr. Finch, und passen Sie gut auf den kleinen Piraten auf!“
Bevor Sparrow „Hängt sie!“ kreischen konnte,
hielt John ihm vorsichtshalber den Schnabel zu, schnappte mit der anderen Hand
seinen Seesack, drehte sich rasch um und verließ mit großen Schritten die
Quarantänestation. „Du bist eine gefiederte Blamage“, zischte er dabei dem
Papagei auf seiner Schulter zu.
Aziz Ben Assaid stand etwas abseits, als
John mit dem Papagei auf seiner Schulter die Quarantänestation verließ. Er
wollte nicht gesehen werden, trat zurück in einen Seitengang und wartete, bis
der Pilot durch den Ausgang in Richtung der Taxistandplätze verschwunden war.
Dann griff er zum Telefon und wählte.
Lieber Gerd, danke für die Leseprobe! Ich bin jetzt schon total neugierig, wie es weitergehen wird! :)
AntwortenLöschenLieber Gruß,
Anna-Lisa