Mittwoch, 22. Mai 2013

"Heiss" - Leseprobe 2

Nachdem wir in der ersten Leseprobe John Finch beobachtet haben, der nach Ägypten zurück kommt, wo ihn im wahrsten Sinne des Wortes die Vergangenheit einholt, kommen wir in der zweiten zu einer Figur, die uns ebenfalls durch das ganze Buch begleiten wird. Einer Figur, die allerdings noch niemand kennt (weil sie in "Falsch" nicht mitgespielt hat..:=), die aber auch in "Still" dabei sein wird. Aber - lest selbst....:=). Auftritt Thomas Calis....





Ostermontagabend, Kleingartenanlage „Sonntagsfrieden“, Berlin /Deutschland
    
   
Thomas Calis verfluchte seine Tante Louise an diesem Abend bereits zum hundertsten Mal.
Mindestens.
Als er erschöpft den drei Männern hinterher blickte, die mit einem herablassenden Lächeln die quietschende Gartentür öffneten, das Grundstück verließen und sich dabei einen wissenden Blick zuwarfen, schickte er noch einen besonders saftigen Fluch himmelwärts und hoffte, dass Tante Louise ihn da oben hören möge. Das Gremium der Kleingartenanlage „Sonntagsfrieden“, bestehend aus Vorsitzendem, Kassenwart und einem greisen Ehrenmitglied, das bestimmt noch Bismarck persönlich gekannt hatte, bog entschlossen auf den schmalen Verbindungsweg zwischen den Gärten ein. Dann, wie auf ein unhörbares Kommando, wandten sich die drei Männer auf dem gepflegten Kiesweg nochmals um und warfen einen misstrauischen Kontrollblick zurück. Er wartete nur darauf, dass sie erneut einen Zollstock zücken würden, um die Höhe der Fliederhecke nachzumessen. Der Schlag sollte sie treffen und seine Tante Louise noch dazu!
Aber der zweite Teil des Wunsches hatte sich bereits erfüllt.
Dabei hatte alles so harmlos begonnen. Kurz nach Weihnachten war Tante Louise – oder Louischen, wie sie im Kreise der Familie hieß – im Alter von 84 Jahren sanft entschlafen. Ihre riesiges Appartement am Ku’damm, das sie seit mehr als fünfzig Jahren allein bewohnt und bis an die Decke mit ihrer Ansicht nach Sammelnswertem vollgestopft hatte, war der regelmäßige Treffpunkt für Familienfeste aller Art gewesen. Denn eines hatte Tante Louise perfekt beherrscht – sie konnte kochen wie ein französischer Küchenchef.
Louise kochte gern, ausgezeichnet und viel, was ihr in der Familie eine unbestrittene Beliebtheit sicherte. Dazu kam, dass ihr erster und einziger Gemahl, der die Ehe mit der quirligen Louise nur neun Monate lang überlebt hatte, sein beträchtliches Vermögen in blinder Liebe seiner damals blutjungen Frau vermacht hatte. So konnte Louischen sich den Luxus erlauben, nicht zu arbeiten, ihr plötzliches Vermögen zu vermehren und ansonsten Gegenstände anzuhäufen, die ihr in die Finger kamen.
Sie ging es systematisch an. War eines der hohen Zimmer vollgeräumt, dann wurde es einfach abgeschlossen und die Sammlung im nächsten fortgesetzt. Da ihre Wohnung den gesamten ersten Stock eines Patrizierhauses beim Olivaer Platzes einnahm, konnte Louise in Ruhe Jahrzehnte lang ihrer Leidenschaft frönen, bevor sie sich platzmäßig einschränken musste. Bevor sie, von Altersschwäche gezeichnet, die letzte Woche ihres Lebens im Krankenhaus verbrachte, hatte sie nur mehr in der Küche und einem kleinen Kabinett gehaust. Der Rest der Wohnung, angefüllt mit Schätzen aller Art, war kaum mehr betretbar gewesen.
Die Erben rieben sich angesichts der traurigen Mitteilung vom Ableben der etwas spleenigen alten Dame erwartungsvoll die Hände und Thomas Calis musste sich eingestehen, dass auch er keine Ausnahme bildete. Als er hörte, dass seine Lieblingstante das Zeitliche gesegnet hatte, war er mit einem Gefühl freudiger Erwartung zu Frank Lindner, seinem Chef, gegangen, hatte sich einen freien Tag genommen und war schließlich beschwingt zur Testamentseröffnung geradelt.
Die Enttäuschung war umso größer gewesen, als der Notar das Schriftstück verlesen hatte und Thomas Calis’ Name nicht gefallen war. Louise hatte alle bedacht, ihn aber offenbar vergessen! Die Sammlung alter Meister ging an ihren jüngeren Bruder Leon, die Bibliothek an Cousine Marianne und die Biedermeier- und Jugendstilmöbel an Tante Sophie, der Schmuck an Rosemarie, der Inhalt des Kabinetts an ihren Neffen Walter... und so ging es weiter.
Seitenlang.
Als der Notar das Testament endlich verlesen hatte, griff er gierig nach einem Glas Wasser, das auf dem modernen Schreibtisch stand, leerte es mit einem Zug und holte danach tief Luft. „Ach ja, da haben wir noch einen Zusatz“, murmelte er, als er einen angehefteten und gestempelten kleinen Zettel entdeckte, der dem Testament beigefügt war. „Meinem Neffen Thomas Calis vermache ich den Kleingarten in Berlin-Charlottenburg, den  mein seliger Mann damals nach dem Krieg erworben hat. Ich weiß, dass er somit in die besten Händen kommt.“
Der Notar blickte suchend auf und schaute direkt in die verständnislosen Augen des völlig vor den Kopf gestoßenen Erben. 
„Kleingarten?“, hörte Calis sich krächzen, „Laubenpieper? Is’ nicht wahr...“
Niemand aus der Familie hatte ihm gratuliert.
Kein bisschen Neid hatte sich in den Augen der Angehörigen abgezeichnet, nur stummes Mitleid. Bis dato hatte niemand gewusst, dass Louischen ein Grundstück in einer Kleingartenanlage mit dem bezeichnenden Namen „Sonntagsfrieden“ am Goslarer Ufer ihr Eigen nannte. Nun war es also in die treusorgenden Hände von Lieblingsneffen Thomas Calis übergegangen.
Geschah ihm Recht.
Mit der schüchternen Frage: „Gibt es vielleicht die Möglichkeit, die Erbschaft auszuschlagen?“, war Calis schließlich völlig zum Paria geworden. Die entrüsteten Blicke der übrigen Verwandtschaft, verbunden mit einem entsetzten, kollektiven Kopfschütteln, hatten ihn an den Sessel genagelt.
Von diesem Zeitpunkt an hatte ihn keines der übrigen Familienmitglieder mehr beachtet.
So hatte Thomas Calis alles verdrängt: Die Testamentseröffnung, Tante Louise, den Kleingarten, die Akte Sonntagsfrieden. Er hatte sich in die Arbeit gestürzt, war mit Alice, seiner neuen Freundin, auf einen Kurzurlaub nach Marienbad gefahren und hatte bei seiner Rückkehr einen knallgelben Zettel mit einer Telefonnummer auf seinem Schreibtisch vorgefunden. „Dringender Rückruf“, stand darauf, dann eine Nummer und „unverzüglich!“
Was dann kam, sollte er nicht so schnell wieder vergessen. Ein entrüsteter Vorsitzender des Kleingartenvereins "Sonntagsfrieden" hatte ihm im Laufe eines eher einseitig geführten Gesprächs ein klares Ultimatum gestellt: „Der Garten mit der Nummer 9/54, den Sie von Ihrer Tante geerbt haben, muss bis zur Eröffnung der Saison 2011 am Ostermontagabend auch tatsächlich einer zivilisierten Grünfläche ähnlich sehen und nicht einer zugewachsenen Deponie mit einem halbverfallenem Haus. So etwas ist unserer Gemeinschaft unwürdig! Hier gibt es Regeln und Pflichten, Richtlinien und Satzungen! Wir haben mit Rücksicht auf den angegriffenen Gesundheitszustand Ihrer Tante und des hohen Alters beide Augen zugedrückt, aber nun ist die Schonfrist vorbei. Sie glauben wohl, nur profitieren zu können?“
„Wovon?“, hatte Thomas Calis halbherzig eingewandt, war aber auf völliges Unverständnis gestoßen.
„Laut Paragraph 24b der Kleingartenordnung können wir die Parzelle 9/54 jederzeit neu vergeben, sollte sie ungepflegt, vernachlässigt und offensichtlich ungenutzt sein oder den Vorschriften nicht entsprechen“, hatte der Vorsitzende ihn kühl wissen lassen. „Sie haben noch genau zwei Wochen Zeit.“
Das war das Ende des Gesprächs gewesen und der Beginn eines Wettlaufs gegen die Zeit, des Kampfs gegen Unkraut und Wildwuchs, überbordende Stauden und die verwitterten Holzbalken einer ehemals weiß gestrichenen Gartenlaube im Miniformat. Vom Haus, das direkt aus einer Modellbahnlandschaft zu stammen schien, gar nicht zu reden.
Das volle Ausmaß der Katastrophe war Thomas Calis klar geworden, als er das erste Mal vor einem windschiefen, rostigen Eisentor stand und versuchte, durch das meterhohe, wild wuchernde Gestrüpp irgendetwas zu erkennen. Auf dem Grundstück links von ihm zog ein kleiner Japaner unter ständigem Gemurmel seinen Rechen durch Kubikmeter von Kies und legte komplizierte Muster um Bonsai-Bäumchen an. Rechts tuckerte laut pfeifend eine Modelleisenbahn durch exakt rechtwinkelig gezogene Blumenrabatten, begleitet vom offensichtlichen Gejohle einer Kolonie Gartenzwerge mit weit aufgerissenen Mündern.
Thomas Calis ließ den Kopf hängen und schloss verzweifelt die Augen. 
„Hallo Nachbar!“, ertönte es aus der japanischen Enklave. „Haben Sie eine Machete mitgebracht? Oder sprengen Sie sich den Weg frei, Mastel Blastel?“

Eine arbeitsreiche Woche später – das Osterwochenende und damit der alles entscheidende Termin rückten unerbittlich näher – war Alice ihm in den Rücken gefallen.
„Ich nehme nicht an, dass du unseren Kurzurlaub auf Sylt vergessen hast“, hatte sie spitz bemerkt. „Abreise Karfreitag Nachmittag in meinem neuen Cabrio. Ich möchte Ostern nicht in Berlin festsitzen, während alle meine Freundinnen sich zwischen Garmisch und Kiel beim fröhlichen Eiersuchen im eleganten Rahmen vergnügen.“
„Hmm, daraus wird leider nichts“, hatte Calis gemurmelt und war dabei in Gedanken durchgegangen, was im Schrebergarten noch alles zu tun war. „Ich bin es Tante Louise schuldig.“
„Pah! Du bist ihr gar nichts schuldig!“ Alices erboster Kommentar hatte die Eröffnung  der Feindseligkeiten signalisiert. Das erbitterte Wortgefecht, an dessen Ende die Anwältin  wütend die Tür hinter sich zu gedonnert hatte, war das Letzte, das Thomas Calis seitdem von seiner Freundin gehört hatte.
Als er sich am Karsamstagabend auf seine Schaufel stützte und nachdenklich das erste Beet betrachtete, das er im Schweiße seines Angesichts angelegt hatte, fiel ihm Alice wieder ein. Wahrscheinlich drängte sie sich bereits kurzberockt an der Theke der Sansibar in Rantum, schlürfte Austern mit ein paar Verehrern im Schlepptau, die sich um die Bezahlung der Zeche stritten und dabei ihren Hintern nicht aus den Augen ließen.
Während er Regenwürmer belästigte...
„Nicht schlecht für einen Anfänger“, bemerkte die japanische Fraktion gönnerhaft mit breitem Grinsen, während der Zugmagnat auf der anderen Seite offenbar beschlossen hatte, den neuen Nachbarn zu ignorieren und stattdessen außerplanmäßig einen besonders langen Sonderzug einzuschieben.
Die Gartenzwerge johlten glücklich.

Montags war dann pünktlich um neunzehn Uhr wie angedroht das Dreigestirn am Osterhimmel aufgetaucht, Zollstock, Klemmbrett und Lageplan in der Hand. Das oberste Gremium der Kleingartenanlage „Sonntagsfrieden“ ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm todernst war. Nach einer kurzen Begrüßung, die eher einer Kriegserklärung ähnelte, begannen sie die „Begehung des Grundstückes“, wie sie es nannten, schauten, maßen, schritten ab. Ihren wachsamen Blicken entging nichts. Die Höhe der Hecken, die Breite der Bäume, die Lage der Beete, der Abstand der Sträucher von der Grundgrenze, der neue Anstrich des Gartenhauses, die Art der gepflanzten Blumen. Hundertfünfzig Jahre Erfahrung in Kleingärtnerei trafen erbarmungslos auf pures Anfängertum.
Thomas Calis ertappte sich plötzlich dabei, wie sich seine Mordgelüste kaum noch zurückdrängen ließen. Er fühlte sich wie bei einer Prüfung, von der seine Zukunft abhing. Für einen Moment durchzuckte ein mörderischer Gedanke nach dem anderen sein Gehirn. Sprengung, Totschlag mit der Schaufel, heimliches Verbuddeln der Leichen im Tulpenbeet. Doch als er seinen japanischen Nachbarn sah, der neugierig über den Zaun glotzte und an einer übel riechenden Wurzel kaute, wurde ihm klar, dass es mit Heimlichkeit und Privatsphäre in einer Kleingartenanlage nicht weit her war.
Wenn hier einer furzte, dann litten drei andere.
Nach fast einer Stunde aufreibender und fast wortloser Kontrollarbeit war das Gremium wieder abgezogen und Calis hätte wetten können, dass ein kollektives Aufatmen durch die Nachbarschaft ging. Es war bereits dunkel geworden und aus einem der Gärten zog der Duft von Grillwurst und Rippchen durch die Abendluft.
Alice hatte sich das ganze Wochenende lang nicht gemeldet. Wahrscheinlich, nein, ganz sicher sogar war sie bereits mit einem ihrer Sylter Verehrer in medias res gegangen, wie sie es nannte.
Juristen unter sich... oder unter einander…
Mit einem allerletzten Fluch an die Adresse von Tante Louise zog er eine kalte Flasche Bier aus der Kühltasche und ließ sich seufzend ins Gras sinken. Seine Hände waren voller Blasen, zerkratzt und wund, seine Schultern und sein Rücken schmerzten. Die kurzgeschnittenen, strohblonden Haare standen nach allen Seiten ab, der Staub brannte in seinen Augen und die schmutzige Brille war zu einem Weichzeichner geworden, der die Welt gnädig ein wenig erträglicher erscheinen ließ. Thomas Calis war weichgeklopft, aber siegreich aus dem Kampf mit der Natur hervorgegangen.
Er war ein wenig stolz auf sich und genoss den Augenblick des Triumphs.
Das Pils zischte und verdampfte auf dem Weg in den Magen. Thomas atmete genüsslich auf und setzte die Flasche erneut an. Während er noch überlegte, danach sofort eine weitere Buddel zu köpfen, hörte er irgendwo drinnen im Gartenhaus sein Handy klingeln.
„Vergiss es“, murmelte er kopfschüttelnd, aber dann dachte er an Alice und rappelte sich ächzend hoch. Durch seine verschmierten Brillengläser sah er das Display nur verschwommen leuchten und so meldete er sich unverbindlich mit einem hoffnungsvollen „Ja?“
„Kommissar Calis? Wir haben einen Toten in der Berlichingenstraße in Moabit, ganz in Ihrer Nähe. Der Chef möchte, dass Sie sich die Sache ansehen. Natürlich nur, wenn Sie sich von Ihrer neuen Gartenleidenschaft losreißen können, wie er so richtig meinte...“ 
 

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