Ostermontagabend,
Kleingartenanlage „Sonntagsfrieden“, Berlin /Deutschland
Thomas Calis verfluchte
seine Tante Louise an diesem Abend bereits zum hundertsten Mal.
Mindestens.
Als er erschöpft den drei
Männern hinterher blickte, die mit einem herablassenden Lächeln die
quietschende Gartentür öffneten, das Grundstück verließen und sich dabei einen wissenden
Blick zuwarfen, schickte er noch einen besonders saftigen Fluch himmelwärts und
hoffte, dass Tante Louise ihn da oben hören möge. Das Gremium der
Kleingartenanlage „Sonntagsfrieden“, bestehend aus Vorsitzendem, Kassenwart und
einem greisen Ehrenmitglied, das bestimmt noch Bismarck persönlich gekannt hatte,
bog entschlossen auf den schmalen Verbindungsweg zwischen den Gärten ein. Dann,
wie auf ein unhörbares Kommando, wandten sich die drei Männer auf dem
gepflegten Kiesweg nochmals um und warfen einen misstrauischen Kontrollblick
zurück. Er wartete nur darauf, dass sie erneut einen Zollstock zücken würden,
um die Höhe der Fliederhecke nachzumessen. Der Schlag sollte sie treffen und
seine Tante Louise noch dazu!
Aber der zweite Teil des Wunsches
hatte sich bereits erfüllt.
Dabei hatte alles so
harmlos begonnen. Kurz nach Weihnachten war Tante Louise – oder Louischen, wie
sie im Kreise der Familie hieß – im Alter von 84 Jahren sanft entschlafen. Ihre
riesiges Appartement am Ku’damm, das sie seit mehr als fünfzig Jahren allein
bewohnt und bis an die Decke mit ihrer Ansicht nach Sammelnswertem vollgestopft
hatte, war der regelmäßige Treffpunkt für Familienfeste aller Art gewesen. Denn
eines hatte Tante Louise perfekt beherrscht – sie konnte kochen wie ein
französischer Küchenchef.
Louise kochte gern,
ausgezeichnet und viel, was ihr in der Familie eine unbestrittene Beliebtheit
sicherte. Dazu kam, dass ihr erster und einziger Gemahl, der die Ehe mit der
quirligen Louise nur neun Monate lang überlebt hatte, sein beträchtliches
Vermögen in blinder Liebe seiner damals blutjungen Frau vermacht hatte. So
konnte Louischen sich den Luxus erlauben, nicht zu arbeiten, ihr plötzliches
Vermögen zu vermehren und ansonsten Gegenstände anzuhäufen, die ihr in die
Finger kamen.
Sie ging es systematisch
an. War eines der hohen Zimmer vollgeräumt, dann wurde es einfach abgeschlossen
und die Sammlung im nächsten fortgesetzt. Da ihre Wohnung den gesamten ersten
Stock eines Patrizierhauses beim Olivaer Platzes einnahm, konnte Louise in Ruhe
Jahrzehnte lang ihrer Leidenschaft frönen, bevor sie sich platzmäßig
einschränken musste. Bevor sie, von Altersschwäche gezeichnet, die letzte Woche
ihres Lebens im Krankenhaus verbrachte, hatte sie nur mehr in der Küche und
einem kleinen Kabinett gehaust. Der Rest der Wohnung, angefüllt mit Schätzen
aller Art, war kaum mehr betretbar gewesen.
Die Erben rieben sich angesichts
der traurigen Mitteilung vom Ableben der etwas spleenigen alten Dame
erwartungsvoll die Hände und Thomas Calis musste sich eingestehen, dass auch er
keine Ausnahme bildete. Als er hörte, dass seine Lieblingstante das Zeitliche
gesegnet hatte, war er mit einem Gefühl freudiger Erwartung zu Frank Lindner, seinem
Chef, gegangen, hatte sich einen freien Tag genommen und war schließlich
beschwingt zur Testamentseröffnung geradelt.
Die Enttäuschung war umso
größer gewesen, als der Notar das Schriftstück verlesen hatte und Thomas Calis’
Name nicht gefallen war. Louise hatte alle bedacht, ihn aber offenbar
vergessen! Die Sammlung alter Meister ging an ihren jüngeren Bruder Leon, die
Bibliothek an Cousine Marianne und die Biedermeier- und Jugendstilmöbel an Tante
Sophie, der Schmuck an Rosemarie, der Inhalt des Kabinetts an ihren Neffen Walter...
und so ging es weiter.
Seitenlang.
Als der Notar das
Testament endlich verlesen hatte, griff er gierig nach einem Glas Wasser, das
auf dem modernen Schreibtisch stand, leerte es mit einem Zug und holte danach
tief Luft. „Ach ja, da haben wir noch einen Zusatz“, murmelte er, als er einen
angehefteten und gestempelten kleinen Zettel entdeckte, der dem Testament
beigefügt war. „Meinem Neffen Thomas Calis vermache ich den Kleingarten in
Berlin-Charlottenburg, den mein seliger
Mann damals nach dem Krieg erworben hat. Ich weiß, dass er somit in die besten
Händen kommt.“
Der Notar blickte suchend
auf und schaute direkt in die verständnislosen Augen des völlig vor den Kopf gestoßenen
Erben.
„Kleingarten?“, hörte Calis
sich krächzen, „Laubenpieper? Is’ nicht wahr...“
Niemand aus der Familie
hatte ihm gratuliert.
Kein bisschen Neid hatte
sich in den Augen der Angehörigen abgezeichnet, nur stummes Mitleid. Bis dato
hatte niemand gewusst, dass Louischen ein Grundstück in einer Kleingartenanlage
mit dem bezeichnenden Namen „Sonntagsfrieden“ am Goslarer Ufer ihr Eigen
nannte. Nun war es also in die treusorgenden Hände von Lieblingsneffen Thomas
Calis übergegangen.
Geschah ihm Recht.
Mit der schüchternen Frage:
„Gibt es vielleicht die Möglichkeit, die Erbschaft auszuschlagen?“, war Calis
schließlich völlig zum Paria geworden. Die entrüsteten Blicke der übrigen
Verwandtschaft, verbunden mit einem entsetzten, kollektiven Kopfschütteln,
hatten ihn an den Sessel genagelt.
Von diesem Zeitpunkt an hatte
ihn keines der übrigen Familienmitglieder mehr beachtet.
So hatte Thomas Calis alles
verdrängt: Die Testamentseröffnung, Tante Louise, den Kleingarten, die Akte Sonntagsfrieden.
Er hatte sich in die Arbeit gestürzt, war mit Alice, seiner neuen Freundin, auf
einen Kurzurlaub nach Marienbad gefahren und hatte bei seiner Rückkehr einen
knallgelben Zettel mit einer Telefonnummer auf seinem Schreibtisch vorgefunden.
„Dringender Rückruf“, stand darauf, dann eine Nummer und „unverzüglich!“
Was dann kam, sollte er nicht
so schnell wieder vergessen. Ein entrüsteter Vorsitzender des
Kleingartenvereins "Sonntagsfrieden" hatte ihm im Laufe eines eher einseitig
geführten Gesprächs ein klares Ultimatum gestellt: „Der Garten mit der Nummer
9/54, den Sie von Ihrer Tante geerbt haben, muss bis zur Eröffnung der Saison
2011 am Ostermontagabend auch tatsächlich einer zivilisierten Grünfläche
ähnlich sehen und nicht einer zugewachsenen Deponie mit einem halbverfallenem
Haus. So etwas ist unserer Gemeinschaft unwürdig! Hier gibt es Regeln und
Pflichten, Richtlinien und Satzungen! Wir haben mit Rücksicht auf den
angegriffenen Gesundheitszustand Ihrer Tante und des hohen Alters beide Augen
zugedrückt, aber nun ist die Schonfrist vorbei. Sie glauben wohl, nur
profitieren zu können?“
„Wovon?“, hatte Thomas Calis
halbherzig eingewandt, war aber auf völliges Unverständnis gestoßen.
„Laut Paragraph 24b der
Kleingartenordnung können wir die Parzelle 9/54 jederzeit neu vergeben, sollte
sie ungepflegt, vernachlässigt und offensichtlich ungenutzt sein oder den
Vorschriften nicht entsprechen“, hatte der Vorsitzende ihn kühl wissen lassen.
„Sie haben noch genau zwei Wochen Zeit.“
Das war das Ende des
Gesprächs gewesen und der Beginn eines Wettlaufs gegen die Zeit, des Kampfs
gegen Unkraut und Wildwuchs, überbordende Stauden und die verwitterten
Holzbalken einer ehemals weiß gestrichenen Gartenlaube im Miniformat. Vom Haus,
das direkt aus einer Modellbahnlandschaft zu stammen schien, gar nicht zu reden.
Das volle Ausmaß der
Katastrophe war Thomas Calis klar geworden, als er das erste Mal vor einem
windschiefen, rostigen Eisentor stand und versuchte, durch das meterhohe, wild wuchernde Gestrüpp
irgendetwas zu erkennen. Auf dem Grundstück links von ihm zog ein kleiner
Japaner unter ständigem Gemurmel seinen Rechen durch Kubikmeter von Kies und legte
komplizierte Muster um Bonsai-Bäumchen an. Rechts tuckerte laut pfeifend eine
Modelleisenbahn durch exakt rechtwinkelig gezogene Blumenrabatten, begleitet
vom offensichtlichen Gejohle einer Kolonie Gartenzwerge mit weit aufgerissenen
Mündern.
Thomas Calis ließ den Kopf
hängen und schloss verzweifelt die Augen.
„Hallo Nachbar!“, ertönte
es aus der japanischen Enklave. „Haben Sie eine Machete mitgebracht? Oder sprengen
Sie sich den Weg frei, Mastel Blastel?“
Eine arbeitsreiche Woche
später – das Osterwochenende und damit der alles entscheidende Termin rückten
unerbittlich näher – war Alice ihm in den Rücken gefallen.
„Ich nehme nicht an, dass
du unseren Kurzurlaub auf Sylt vergessen hast“, hatte sie spitz bemerkt.
„Abreise Karfreitag Nachmittag in meinem neuen Cabrio. Ich möchte Ostern nicht
in Berlin festsitzen, während alle meine Freundinnen sich zwischen Garmisch und
Kiel beim fröhlichen Eiersuchen im eleganten Rahmen vergnügen.“
„Hmm, daraus wird leider
nichts“, hatte Calis gemurmelt und war dabei in Gedanken durchgegangen, was im
Schrebergarten noch alles zu tun war. „Ich bin es Tante Louise schuldig.“
„Pah! Du bist ihr gar
nichts schuldig!“ Alices erboster Kommentar hatte die Eröffnung der Feindseligkeiten signalisiert. Das
erbitterte Wortgefecht, an dessen Ende die Anwältin wütend die Tür hinter sich zu gedonnert
hatte, war das Letzte, das Thomas Calis seitdem von seiner Freundin gehört
hatte.
Als er sich am Karsamstagabend
auf seine Schaufel stützte und nachdenklich das erste Beet betrachtete, das er
im Schweiße seines Angesichts angelegt hatte, fiel ihm Alice wieder ein.
Wahrscheinlich drängte sie sich bereits kurzberockt an der Theke der Sansibar in
Rantum, schlürfte Austern mit ein paar Verehrern im Schlepptau, die sich um die
Bezahlung der Zeche stritten und dabei ihren Hintern nicht aus den Augen
ließen.
Während er
Regenwürmer belästigte...
„Nicht schlecht für einen
Anfänger“, bemerkte die japanische Fraktion gönnerhaft mit breitem Grinsen,
während der Zugmagnat auf der anderen Seite offenbar beschlossen hatte, den
neuen Nachbarn zu ignorieren und stattdessen außerplanmäßig einen besonders
langen Sonderzug einzuschieben.
Die Gartenzwerge johlten
glücklich.
Montags war dann pünktlich
um neunzehn Uhr wie angedroht das Dreigestirn am Osterhimmel aufgetaucht,
Zollstock, Klemmbrett und Lageplan in der Hand. Das oberste Gremium der
Kleingartenanlage „Sonntagsfrieden“ ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm
todernst war. Nach einer kurzen Begrüßung, die eher einer Kriegserklärung
ähnelte, begannen sie die „Begehung des Grundstückes“, wie sie es nannten,
schauten, maßen, schritten ab. Ihren wachsamen Blicken entging nichts. Die Höhe
der Hecken, die Breite der Bäume, die Lage der Beete, der Abstand der Sträucher
von der Grundgrenze, der neue Anstrich des Gartenhauses, die Art der gepflanzten
Blumen. Hundertfünfzig Jahre Erfahrung in Kleingärtnerei trafen erbarmungslos
auf pures Anfängertum.
Thomas Calis ertappte sich
plötzlich dabei, wie sich seine Mordgelüste kaum noch zurückdrängen ließen. Er
fühlte sich wie bei einer Prüfung, von der seine Zukunft abhing. Für einen
Moment durchzuckte ein mörderischer Gedanke nach dem anderen sein Gehirn.
Sprengung, Totschlag mit der Schaufel, heimliches Verbuddeln der Leichen im
Tulpenbeet. Doch als er seinen japanischen Nachbarn sah, der neugierig über den
Zaun glotzte und an einer übel riechenden Wurzel kaute, wurde ihm klar, dass es
mit Heimlichkeit und Privatsphäre in einer Kleingartenanlage nicht weit her
war.
Wenn hier einer furzte,
dann litten drei andere.
Nach fast einer Stunde
aufreibender und fast wortloser Kontrollarbeit war das Gremium wieder abgezogen
und Calis hätte wetten können, dass ein kollektives Aufatmen durch die
Nachbarschaft ging. Es war bereits dunkel geworden und aus einem der Gärten zog
der Duft von Grillwurst und Rippchen durch die Abendluft.
Alice hatte sich das ganze
Wochenende lang nicht gemeldet. Wahrscheinlich, nein, ganz sicher sogar war sie
bereits mit einem ihrer Sylter Verehrer in medias res gegangen, wie sie es
nannte.
Juristen unter sich... oder
unter einander…
Mit einem allerletzten
Fluch an die Adresse von Tante Louise zog er eine kalte Flasche Bier aus der
Kühltasche und ließ sich seufzend ins Gras sinken. Seine Hände waren voller
Blasen, zerkratzt und wund, seine Schultern und sein Rücken schmerzten. Die
kurzgeschnittenen, strohblonden Haare standen nach allen Seiten ab, der Staub
brannte in seinen Augen und die schmutzige Brille war zu einem Weichzeichner
geworden, der die Welt gnädig ein wenig erträglicher erscheinen ließ. Thomas
Calis war weichgeklopft, aber siegreich aus dem Kampf mit der Natur
hervorgegangen.
Er war ein wenig stolz auf
sich und genoss den Augenblick des Triumphs.
Das Pils zischte und
verdampfte auf dem Weg in den Magen. Thomas atmete genüsslich auf und setzte
die Flasche erneut an. Während er noch überlegte, danach sofort eine weitere
Buddel zu köpfen, hörte er irgendwo drinnen im Gartenhaus sein Handy klingeln.
„Vergiss es“, murmelte er
kopfschüttelnd, aber dann dachte er an Alice und rappelte sich ächzend hoch. Durch
seine verschmierten Brillengläser sah er das Display nur verschwommen leuchten
und so meldete er sich unverbindlich mit einem hoffnungsvollen „Ja?“
„Kommissar Calis? Wir
haben einen Toten in der Berlichingenstraße in Moabit, ganz in Ihrer Nähe. Der
Chef möchte, dass Sie sich die Sache ansehen. Natürlich nur, wenn Sie sich von
Ihrer neuen Gartenleidenschaft losreißen können, wie er so richtig
meinte...“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen