Sonntag, 6. August 2017

Leseprobe 1 - Der Zerberus-Schlüssel



3. August 2010, Carl-Storch-Straße, Stadtteil Aigen, Stadt Salzburg/Österreich

 
Das kleine, weiße Haus in dem verwilderten Garten mit der angebauten Garage sah verlassen und unbewohnt aus. Die Gitter vor den schmutzigen Fenstern, ihrer Form nach aus den fünfziger Jahren, waren rostig, der Verputz des bescheidenen Hauses grau und an manchen Stellen abgebröckelt. Aus dem Dach wuchsen Moose und eine kleine Birke, die in der Dachrinne siedelte, wiegte sich im leichten Wind.
Der Mann, der nachdenklich an dem niedrigen Gartentor lehnte und in den fast lilafarbenen Abendhimmel blickte, war schlank und durchtrainiert. Seine verwuselten, blonden Haare leuchteten im Licht der nahen Straßenlaterne. Alexander Reiter mochte Mitte vierzig sein, mittelgroß, mit grün-braunen Augen, die stets etwas belustigt in die Welt blickten. Er trug ausgebleichte Jeans und ein verwaschenes T-Shirt und sah mit seiner Umhängtasche aus wie ein spätberufener Student.
Doch Reiter war alles andere als das.
Nach einem letzten Blick auf das Haus, den völlig ungepflegten Garten, die grasbewachsenen Gehwege und das herabhängende Vordach sprang er über den niedrigen Zaun und war einen Augenblick später zwischen den dichten Büschen verschwunden.
Wie ein Schatten, der sich einfach in Nichts auflöste.
Niemand hatte ihn kommen gesehen, niemand würde ihn gehen sehen.
Die hölzerne Haustür begann bereits, sich in ihre Bestandteile aufzulösen. Die Bretter, eher schwarz als braun, wölbten sich und von der Messingleiste, die früher den unteren Teil der Tür schützte, waren nur mehr einige Metallfetzen übrig.
Reiter warf einen schnellen Blick in die beiden Mülltonnen, deren Deckel mit Blättern bedeckt waren. Leer. Er schnüffelte. Nichts zu riechen. Das Haus war bereits seit längerer Zeit verlassen.
Da alle Fenster vergittert waren, blieb ein einziger Weg - durch die marode Haustür. Reiter zog einen Dietrich aus der Tasche und das altersschwache Schloss hielt keine dreißig Sekunden stand, bevor die Tür quietschend in den trockenen Angeln nach innen schwang. Vorsichtig schob sich Reiter durch den Spalt ins Haus und drückte hinter sich die Tür wieder zu. Das war einfacher gegangen, als er es erwartet hatte.
Die dünne Taschenlampe, die er aus seiner Umhängtasche zog, verbreitete einen kalten Schein. Der scharf abgegrenzte Lichtkegel huschte über Wände mit fadenscheinigen Tapeten, Stühlen aus den siebziger Jahren, Spannteppiche in allen Stadien der Auflösung, einem Abreißkalender von 1981.
In jedem Raum schien sich Müll zu stapeln. Reiter stieg über Berge leerer Verpackungen, gefüllten Mülltüten, zerfledderten Kartons. Warum hatte sie niemand in die leeren Mülltonnen bei der Einfahrt entsorgt?
Chaos, dachte er, hier herrscht das totale Chaos.
Er stieß die nächste Tür auf und warf einen Blick in die Küche. An Essen kochen war hier nicht mehr zu denken. Reiter ließ den Strahl der Taschenlampe über die schmutzigen Schränke wandern, die mit Müll und Essensresten überfüllten Arbeitsplatten , die Ameisen bereits vor längerer Zeit für sich entdeckt und besetzt hatten.
Der Lichtkegel riss stapelweise Packungen mit Fertigknödeln aus dem Dunkel. Offenbar aß der Hausherr sie ungekocht aus der Tüte...
Als Reiter weiter ins Haus vordrang, bemerkte er, dass alle Fensterscheiben mit Zeitungsseiten beklebt worden waren, damit niemand einen Blick ins Haus werfen konnte.
Zum ersten Mal fragte sich Reiter, ob ihm sein Informant nicht einen Bären aufgebunden hatte.
Schimmel hatte den Rest besorgt. Aus dem Lehnsessel hatten Mäuse die Polsterung gerissen, der Stoff hing in Fetzen herunter. Ein alter Aschenbecher machte Werbung für das Österreich der späten sechziger Jahre.
Es war totenstill. Reiter schien es, als hielte das Haus den Atem an. Er konnte Wohnungen und Häuser lesen, wie andere Artikel in der Zeitung. Sie erzählten ihm ihre Geschichte, verrieten ihm, was er wissen wollte. Über die Bewohner, die Besucher, die Vergangenheit. Oft wie Komplizen, manchmal wie Diven. Aber sie sprachen stets zu ihm. Was ihm jedoch dieses Haus verriet, wollte er eigentlich gar nicht wissen.
Nach einem letzten Rundblick machte er sich auf den Weg nach oben, über den dünnen Läufer, der die Stufen bedeckte. Spinnweben hingen vor den Fenstern, verstaubte Gardinen vor den Zeitungen; alles verbreitete eine bedrückende Atmosphäre der Trostlosigkeit.
Am ersten Treppenabsatz war eine Decke über eine Kiste oder ein paar Schachteln gebreitet und Reiter ging in die Hocke, hob sie an und leuchtete mit seiner Lampe darunter.
Unter einer dünnen Schicht von Schimmel und Staub erkannte er lächelnd das Gemälde Montagne Sainte-Victoire von Paul Cézanne und wusste mit einem Mal, er war an der richtigen Stelle. Vorsichtig nahm er die Taschenlampe zwischen die Zähne und hob behutsam die Decke ab. Rund zwanzig Bilder lehnten an der Wand.
Monet, Pissaro, Renoir. Verstaubt, schmutzig, teilweise von schwerem Schimmelbefall gezeichnet.
Kopfschüttelnd deckte Reiter die Kostbarkeiten wieder zu. Dann stieg er weiter die Treppe hinauf, zog eine Liste aus seiner Tasche und überflog sie kurz. Als er die nächste Tür aufstieß, verschlug ihm der Anblick den Atem. Zwischen Müll und alten Zeitungen waren im gesamten Raum Stapel von Bildern verteilt, lehnten an den Wänden, lagen auf den Möbeln.
Hunderte Werke weltbekannter Maler zwischen leeren Schachteln von Fertigknödel …
Reiter erkannte Bilder von Max Liebermann, Edvard Munch, die Radierung Tête de femme von Picasso. Auf einer Anrichte stand eine Bronzeskulptur von Auguste Rodin. La Danaide, die Liegende  Frau auf dem Felsen. Als er einige der Mappen aufschlug, die auf einem Tisch lagen, erkannte er Aquarelle von Pablo Picasso, durch die sich bereits die Würmer gefressen hatten.
Reiter spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Gier und Dummheit machten ihn immer wieder zornig. Er klappte die Mappen wieder zu und ging ins nächste Zimmer. Erneut ein Raum voller Gemälde, Bilder überall. Selbst auf dem Bett waren sie gestapelt. Der Zustand der meisten war beklagenswert.
Es tat Reiter in der Seele weh.
Rasch zog er einen Fotoapparat aus seiner Umhängetasche und begann zu fotografieren. Die wenigen Bilder auf seiner Liste, insgesamt fünf, stellte er beiseite, als er sie nach und nach unter dem Abfall entdeckte.
Nach etwa zwei Stunden hatte er das Haus vom Dachboden bis zum Keller durchkämmt und alle Bilder erfaßt. Insgesamt zählte er 239 Meisterwerke plus der fünf, wegen denen er gekommen war. Schließlich zog er zwei dünne Riemen aus seiner Tasche, band die Bilder zusammen und schlug sie in eine Decke. Das Bündel war handlich und erstaunlich klein.
Aber millionenschwer.
Dann verließ Alexander Reiter das kleine weiße Haus im Stadtteil Aigen wieder und verschloss die Tür. Alles war ruhig, Garten und Straße lagen verlassen da. Es war dunkel geworden und die Straßenlaternen warfen ein gelbliches Licht auf den Asphalt. Das  noble Wohngebiet im Süden Salzburgs bereitete sich darauf vor, seine Bewohner ins Bett zu schicken.
Sein dunkler Mercedes-Bus stand in der nächsten Seitenstraße unter einem Baum. Reiter verstaute das Bündel im Laderaum und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Dann holte er ein Handy aus dem Handschuhfach, legte eine brandneue Prepaid-Karte ein und wählte eine Nummer in Tel Aviv, die er aus früheren Zeiten kannte. Als der Teilnehmer sich mit einem vorsichtigen „Hallo?“ meldete, begann Reiter zu sprechen.
„Mein Name tut nichts zur Sache, nennen Sie mich einfach Rebus. Hören Sie gut zu, ich werde Ihnen diese Geschichte nur einmal erzählen und nichts wiederholen. Stellen Sie keine Fragen, sonst lege ich sofort auf. In der Salzburger Carl-Storch-Straße in Österreich gibt es ein verlassenes, weißes Haus. Es gehört dem Sohn eines der bedeutendsten Kunsthändler des Dritten Reichs, Hildebrand Gurlitt. Der war damals einerseits damit beauftragt, die aus deutschen Museen beschlagnahmte sogenannte ‚Entartete Kunst‘ ins Ausland zu verkaufen, zum anderen war er nach Beginn des Zweiten Weltkriegs als einer der Haupteinkäufer für das Hitler-Museum  in Linz am nationalsozialistischen Kunstraub beteiligt. Vor allem in Frankreich. Doch zurück zu dem Haus in Salzburg. Da liegen mehr als zweihundert Meisterwerke unter anderem von Picasso, Renoir, Monet und Cézanne und verrotten. Ich denke, das sollte für eine fundierte Recherche des Instituts reichen. Und Ihre Kontakte zu den deutschen und österreichischen Behörden sind sicherlich von gegenseitigem Wohlwollen geprägt. Shalom.“
Damit legte er auf und nahm grinsend die Karte aus dem Handy, knickte sie in der Mitte und ließ sie in den nächsten Kanal fallen. Dann legte er das Mobiltelefon vor den linken Vorderreifen, startete den Bus und rollte darüber.
Wer mit dem Mossad telefonierte, konnte nicht vorsichtig genug sein.

*

Wenig später steuerte Reiter den Bus über die Tauernautobahn Richtung Süden, durch Tunnels und über Brücken und rollte zwei Stunden später nördlich an Villach vorbei, bevor er die Abzweigung in Richtung Tarvis und Udine nahm. Die ehemalige Grenzstation zu Italien war verwaist. Nicht einmal ein einsames Polizeifahrzeug parkte in einer der dunklen Zufahrten.
Im Radio sang Gianna Nannini Bello e impossibile und Reiter sang mit. Wenig später querte die Autobahn das erste Mal den Fluss und das breite, steinige Bett des Tagliamento oberhalb von Udine leuchtete im Mondlicht fast blendend weiß.
Die roten Digitalziffern der Uhr am Armaturenbrett sprangen auf 03 Uhr 55, als Reiter die Stadtgrenze von Triest überquerte und die abschüssige Straße zum Hafen hinunter rollte. Wenig später erreichte er die Piazza Giotti, wo sich die Umrisse der großen jüdischen Synagoge der Stadt gegen den Morgenhimmel abzeichneten. Triest, die alte österreichische Hafenstadt, schlief noch und die Straßen waren bis auf ein paar geschäftige Putzkolonnen der Stadtverwaltung menschenleer.
Reiter stieg aus und atmete tief durch. Die Luft war warm, roch nach Meer und Seetang, nach Schiffsreise und Urlaub im Süden. Er blickte die Fassade der Synagoge hoch, die ein wenig an eine Trutzburg mitten in der Stadt erinnerte. Bereits in der Mitte des 13.Jahrhunderts hatten sich Juden in Triest angesiedelt und sie waren gekommen, um zu bleiben. Geschützt von einem Toleranzpatent von Kaiser Joseph II. gründeten sie in Triest Versicherungen und Schifffahrtsgesellschaften, wie die Generali oder den Österreichischen Lloyd. Doch die Spuren der großen Familien aus Habsburger Zeiten waren lange verweht. Geblieben waren eine jüdische Gemeinde von rund sechshundert Menschen, die im Laufe der Jahrzehnte aus aller Herren Länder nach Triest gekommen waren, und eine prächtige Synagoge.
Vorsichtig löste Reiter die Riemen und zog einen kostbar gestalteten Rahmen heraus, der ein fein gezeichnetes, koloriertes Blatt enthielt. Es zeigte eine chinesisch wirkende Parkanlage mit einer Brücke über einen See und einem Pavillon mit Pagodendach im Hintergrund. Er legte es beiseite und verschnürte die übrigen Bilder erneut. Mit dem Bündel auf der Schulter überquerte er die Via Guido Zanetti und suchte nach einer ganz bestimmten Tür unter den Arkaden der Synagoge. Dann drückte er auf den Klingelknopf und wartete.
Sai che ore sono?” Der Hausmeister sah den frühen Gast verdattert an und tastete gleichzeitig nach seiner Brille in der Tasche seines Schlafrocks.
“Es tut mir leid, Sie geweckt zu haben, aber dies hier gehörte einmal der Familie Vivante. Ich bin mir sicher, Sie werden es an die richtigen Stellen weiterleiten.“ Damit lehnte er das Bündel an die offene Tür, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit, bevor der Hausmeister seine Brille aufgesetzt hatte.
„Signore! Aspetta … un momento …!“, hallte es über die Straße, doch Reiter lief bereits zu seinem Bus, startete den Motor und beschleunigte wenige Augenblicke später die Via Zanetti hinunter in Richtung Hafen.
„Und jetzt nach Antwerpen“, murmelte er lächelnd.

*

Das Telefonat, das Reiter mit dem israelischen Geheimdienst in jener Nacht führte, brachte die sogenannte „Affäre Gurlitt“ ins Rollen. Vier Wochen später wurde Cornelius Gurlitt im Zug von Zürich nach München von deutschen Zollfahndern kontrolliert. Er hatte neuntausend Euro bei sich und obwohl diese Summe unter die gesetzliche Zehntausend-Euro-Grenze fiel, ließen die Beamten aus bisher unbekannten Gründen nicht locker und leiteten Ermittlungen ein. Gurlitt, der als Heimatadresse München angab, war da jedoch weder gemeldet, noch hatte er eine deutsche Bankverbindung oder eine Sozialversicherung. Mehr als ein Jahr später wurde seine Kunstsammlung beschlagnahmt. Im November 2013 gab der ermittelnde Staatsanwalt an, dass die Bilder in München und Salzburg kein Zufallsfund gewesen seien. Man habe „im Zusammenhang mit den steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gezielt gesucht.“
Doch das Telefongespräch hatte noch weitere Folgen. Der Mann in Tel Aviv hatte sich eine Notiz gemacht, in die Ecke einer Schreibtischunterlage. Sie bestand aus drei Worten: Rebus – Gemälde – Cobra.



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